Die Kröte

[von Hans Christian Andersen]

Der Brunnen war tief, darum war die Schnur auch lang. Die Winde ging sehr schwer, wenn man den Eimer mit Wasser über den Brunnenrand heben wollte. Niemals konnte die Sonne hinabgelangen und sich in dem Wasser spiegeln, wie klar es auch war. Aber so weit sie in den Brunnen hineinscheinen konnte, wuchs Grün zwischen den Steinen.

Dort unten wohnte die Familie aus dem Geschlecht der Kröten. Sie war eingewandert, eigentlich kopfüber hinuntergekommen, mit der alten Krötenmutter, die noch lebte. Die grünen Frösche, die hier schon seit viel längerer Zeit zu Hause waren und im Wasser herumschwammen, erkannten die Verwandtschaft an und nannten sie "Brunnengäste". Es war ihre Absicht, hier unten zu bleiben, denn sie lebten sehr angenehm auf dem Trocknen. So nannten sie jedenfalls die nassen Steine.

Die Froschmutter war einmal auf Reisen gegangen. Sie war im Wassereimer gewesen, als er in die Höhe ging. Da wurde es ihr zu hell und sie bekam Augenschmerzen. Glücklicherweise gelang es ihr, aus dem Eimer zu entweichen. Sie fiel mit einem schrecklichen Plumps ins Wasser und litt danach noch drei ganze Tage an Rückenschmerzen. Viel konnte sie nicht von der Welt da oben erzählen, aber sie wusste, was alle wussten: Der Brunnen war nicht die ganze Welt. Die Krötenmutter hätte davon erzählen können, aber sie antwortete niemals, wenn man fragte. Also fragte man lieber gar nicht.

"Dick und hässlich, fett und grässlich ist sie!", riefen die jungen, grünen Frösche. "Ihre Jungen werden ebenso hässlich sein!" "Das mag wohl sein!" erwiderte die Krötenmutter gelassen. "Aber eines von ihnen hat einen Edelstein im Kopf, sonst habe ich ihn."

Die grünen Frösche hörten es und glotzten. Das gefiel ihnen gar nicht, darum schnitten sie eine Fratze und gingen auf den Grund. Die jungen Kröten aber streckten die Hinterbeine vor lauter Stolz. Jede von ihnen glaubte, den Edelstein zu haben und saßen ganz still mit dem Kopfe da. Doch dann fragten sie endlich, worauf sie eigentlich stolz seien und was es mit dem Edelstein auf sich habe.

"Das ist etwas so Herrliches und Köstliches", sagte die Krötenmutter, "dass ich es nicht beschreiben kann. Das ist etwas, was man zu seinem eigenen Vergnügen trägt und worüber die anderen sich ärgern. Aber fragt mich nicht, mehr sage ich nicht!"

"Eines ist gewiss", sagte die kleinste Kröte, "ich habe den Edelstein nicht." Sie war so hässlich, wie sie nur sein konnte. "Warum sollte ich auch eine solche Herrlichkeit besitzen? Und wenn sich andere darüber nur ärgern, kann ich mich gar nicht darüber freuen! Nein, ich wünsche mir lieber, dass ich einmal an die Brunnenkante hinaufkomme und hinaussehen kann. Das muss herrlich sein!"

"Bleib du nur, wo du bist", sagte die Alte. "Da weißt du, was du hast und kennst dich aus! Nimm dich vor dem Eimer in acht, der kann dich leicht zerquetschen! Und wenn du glücklich in ihn hineinkommst, so kannst du herausfallen. Nicht alle fallen so glücklich wie ich und behalten ihre heilen Glieder und ihre Eier!"

"Quack!", sagte die kleine Kröte, und das war so, als wenn wir Menschen "Ach" sagen. Sie hatte so eine Lust, auf den Brunnenrand zu steigen und sich umzusehen. Sie hatte große Sehnsucht nach all dem Grünen da oben. Und als am nächsten Morgen der Eimer zufällig mit Wasser in die Höhe gezogen wurde und ausgerechnet vor dem Stein der Kröte etwas anhielt, sprang sie hinein. Auf dem Grunde des Eimers wurde sie dann hochgezogen.

"Pfui Teufel!", rief der Knecht, als er das Wasser ausschüttete. "Das ist wahrhaftig das Gräulichste, was ich je gesehen habe!" Dann stieß er mit seinem Holzschuh nach der Kröte, die beinahe zerquetscht worden wäre, aber doch in die hohen Brennnesseln entkam. Dort sah sie einen Stängel neben dem anderen stehen. Sie sah auch aufwärts. Die Sonne schien auf die Blätter nieder, und sie waren ganz durchsichtig. Das war für die Kröte so, als wenn wir Menschen in einen großen Laubwald kommen, wo die Sonne durch die Zweige und Blätter hindurchscheint.

"Hier ist es viel schöner als unten im Brunnen! Hier möchte man sein ganzes Leben bleiben!" rief die kleine Kröte. Sie lag dort eine ganze Stunde lang und ruhte sich erst mal aus. "Was wohl da draußen ist?", fragte sie sich dann. "Wenn ich schon so weit gekommen bin, will ich auch sehen, dass ich weiter komme." Die kleine Kröte kroch, so schnell sie kriechen konnte, und kam auf den Weg hinaus. Die Sonne schien auf sie herab und der Staub bepuderte sie, während sie über die Landstraße marschierte. "Hier ist man so recht auf dem Trocknen", sagte die Kröte. "Ich bekomme fast zu viel von dem Guten. Es kribbelt geradezu in mir!"

Jetzt kam sie an den Graben, wo Vergissmeinnicht und Spiera wuchsen. Es gab lebende Hecken aus Holunder und Weißdorn, und überall zeigten sich Windengewächse, die man "Marias weiße Hemdärmel" nannte. Hier konnte man Farben wirklich sehen. Es flog auch ein Schmetterling herum, und die Kröte glaubte, es sei eine Blume, die sich losgerissen habe, um sich besser in der Welt umzusehen. "Wenn ich doch auch so schnell vorwärts kommen könnte wie die", sagte die Kröte. "Quack, ach, wie viel Schönes ist hier zu sehen!"

Acht Tage und Nächte blieb sie hier am Graben, und es fehlte ihr nicht an Nahrung. Am neunten Tage dachte sie: "Jetzt muss ich aber weiter." - Aber ob sie etwas Schöneres finden würde? Vielleicht eine kleine Kröte oder ein paar grüne Frösche. Es hatte in der letzten Nacht so geklungen, als wenn die Vettern in der Nähe wären.

"Es ist schön zu leben", sagte die kleine Kröte sich selbst." Ich bin aus dem Brunnen herausgekommen, habe in den Brennnesseln gelegen, bin auf dem staubigen Weg gewandert und habe mich am nassen Graben vergnügt! Aber man muss doch auch versuchen, Frösche oder eine kleine Kröte zu finden. Die kann man nicht auf Dauer entbehren, denn die Natur alleine genügt einem nicht." Da machte die kleine Kröte sich wieder auf den Weg.

Sie kam aufs Feld an einen großen Teich, der ringsumher mit Schilf bewachsen war. Müde schlüpfte sie in den Teich. "Hier ist es wohl reichlich feucht für Sie", sagten die Frösche, "aber Sie sind uns willkommen! - Sind Sie weiblichen oder männlichen Geschlechts? Aber das ist ja einerlei, Sie sind uns gleich willkommen!"

Dann wurde die kleine Kröte zum Konzert am Abend eingeladen. Familienkonzert! - Große Begeisterung und dünne Stimmen, das kennen wir. Es gab keine Bewirtung, nur freie Getränke, wenn nötig, den ganzen Teich.

"Jetzt reise ich aber weiter", sagte die kleine Kröte. Sie hatte immer das Bedürfnis nach etwas Besserem. In der klaren Nacht sah sie die Sterne schimmern, so groß und so klar. Sie sah den Vollmond leuchten, dann die Sonne aufgehen, höher und höher. "Ich bin wohl noch immer im Brunnen, in einem großen Brunnen. Ich muss höher hinauf! Eine seltsame Unruhe ist in mir und ich habe Sehnsucht." Und als der Mond sich ganz rund am Himmel zeigte, dachte das arme Tier: "Ob das wohl der Eimer ist, der herabgelassen wird? Ob ich wohl hineinspringen muss, um höher hinaufzukommen? Oder ist die Sonne der große Eimer? Wie groß sie doch ist, wie strahlend. Bestimmt kann sie uns alle zusammen aufnehmen. Ach, wie es in meinem Kopf glüht und leuchtet! Ich glaube nicht, dass ein Edelstein besser leuchten kann! Aber den habe ich ja auch nicht, und ich weine deswegen nicht. Nein, ich will nur höher hinauf in Glanz und Freude. Vorwärts! Immer der Landstraße entlang!"

Die kleine Kröte machte so große Schritte, wie sie es als Krabbeltier nur machen kann. Dann war sie auf der großen Landstraße, wo die Menschen wohnten. Viele Gärten reihten sich aneinander, und bei einem Kohlgarten machte die kleine Kröte Rast.

"Wie viele Geschöpfe es doch gibt, die ich nie gekannt habe", dachte sie. "Und wie groß und herrlich die Welt doch ist. Aber man soll sich auch darin umsehen und nicht immer auf demselben Fleck sitzen bleiben." Schon hüpfte sie in den Kohlgarten hinein. "Wie grün es hier ist und wie schön!" "Ja, das weiß ich recht gut", sagte der Kohlwurm auf seinem Blatt. "Mein Blatt ist das größte hier drinnen! Es verbirgt die halbe Welt, aber die kann ich gut entbehren!"

"Gluck, gluck!", sagte es, da kamen Hühner und trippelten durch den Kohlgarten. Das erste Huhn war weitsichtig. Es sah den Wurm auf dem krausen Blatt und pickte danach. Der fiel auf die Erde, wo er sich wand und drehte. Das Huhn sah erst mit dem einen Auge und dann mit dem anderen, denn es wusste nicht, was aus dem Drehen und Winden werden würde. "Er führt Böses im Schilde", sagte das Huhn und erhob den Kopf, um nach dem Wurm zu picken. Die Kröte erschrak und kroch ganz dicht an das Huhn heran. "Siehe da, er hat auch noch Hilfstruppen!", rief das Huhn. "So ein Wurmgezücht!" Das Huhn drehte sich angewidert um. "Ich mache mir nichts aus einem kleinen grünen Zappelkönig, der kitzelt ja nur im Halse!" Die andern Hühner waren derselben Ansicht, und sie gingen fort.

"Ha, da habe ich mich aber tapfer gewunden und gekrümmt", sagte der Kohlwurm. "Es ist doch gut, wenn man Geistesgegenwart besitzt. Aber das Schwerste steht mir noch bevor! Ich muss wieder auf mein Kohlblatt hinaufkommen. Wo ist das nur?"

Die kleine Kröte zeigte sich dagegen hoch erfreut, dass sie die Hühner mit ihrer Hässlichkeit verscheucht hatte. "Was meinen Sie damit?", fragte der Kohlwurm. "Ich habe mich ja selber durch mein Krümmen und Winden befreit. Sie, meine Liebe, schauen doch nur ein wenig unansehnlich aus. Aber wie dem auch sei, ich bin nun wieder bei meinem Kohlblatt angelangt. Es gibt doch nicht Schöneres als das eigene Heim! Jetzt muss ich nur noch höher hinauf." "Ja, höher hinauf", sagte die kleine Kröte, "höher hinauf! Er hat dieselben Empfindungen wie ich!" Und sie sah so hoch empor, wie sie nur konnte.

Der Storch saß im Nest auf dem Dach eines Bauernhauses . Er klapperte, und die Storchenmutter klapperte auch. In dem Bauernhaus wohnten zwei junge Studenten, der eine Poet, der andere Naturforscher. Der eine sang und schrieb voller Freude von allem, was Gott geschaffen hatte und wie es sich in seinem Herzen spiegelte. Er sang es in die Welt hinaus, kurz, klar und in den schönsten Versen. Der andere griff die Dinge selber an, ja schnitt sie auf, wenn es ihm nötig erschien. Sein Bestreben war es, alles bis ins Kleinste zu ergründen, und er sprach mit großem Sachverstand davon. Die beiden Studenten waren gute, fröhliche Menschen, jeder auf seine Art.

"Da sitzt ja ein famoses Exemplar von einer Kröte", sagte der Naturforscher. "Die muss ich in Spiritus setzen!" "Du hast ja schon zwei", meinte der Poet. "Lass sie doch in Frieden sitzen und sich ihres Lebens freuen!" "Aber sie ist so herrlich hässlich", sagte der andere. "Ja, wenn wir den Edelstein in ihrem Kopf finden könnten", sagte der Poet, "dann wäre ich mit dabei, sie aufzuschneiden." "Edelstein?", fragte der Naturforscher. "Du scheinst ja nicht viel von Naturgeschichte zu wissen!" Der Poet seufzte tief und antwortete: "Ist es denn nicht ein schöner Volksglaube, dass die Kröte, das allerhässlichste Tier, in ihrem Kopf den köstlichsten Edelstein tragen soll? Ist es bei den Menschen nicht ebenso? Was für einen Edelstein hätten Äsop oder Sokrates gehabt!"

Mehr hörte die Kröte nicht, und sie verstand auch nicht die Hälfte von dem, was sie hörte. Die beiden Freunde gingen, und sie wurde davor bewahrt, in Spiritus gesetzt zu werden. "Sie sprachen auch von dem Edelstein" sagte die Kröte zu sich. "Ein Glück, dass ich ihn nicht hatte, sonst wäre es um mich geschehen gewesen!"

Da klapperte es auf dem Dach des Bauern. Der Storchenvater hielt seiner Familie einen Vortrag, und die sah schief hernieder auf die beiden jungen Leute im Kohlgarten.

"Der Mensch ist ein eingebildete Kreatur", sagte der Storch. "Hört nur, wie ihm der Schnabel geht! Und dabei können sie doch nicht einmal ordentlich klappern. Sie brüsten sich mit ihrer Redegabe, mit ihrer Sprache. Eine nette Sprache ist das! Sobald sie auch nur eine Tagesreise machen, können sie sich schon nicht mehr verständlich machen. Einer versteht den anderen nicht! Unsere Sprache gibt es dagegen auf der ganzen Welt, in Dänemark so gut wie in Ägypten. Fliegen können die Menschen auch nicht. Sie müssen sich mit einer Erfindung behelfen, die sie ‚Eisenbahn' nennen. Aber auch dabei brechen sie sich noch oft genug den Hals. Es läuft mir kalt über den Schnabel, wenn ich nur daran denke. Die Welt kann sehr gut ohne Menschen bestehen. Wir könnten sie entbehren, wenn wir nur die Frösche und Regenwürmer behalten!"

"Das war ja eine gewaltige Rede", dachte die kleine Kröte. Der Storch breitete seine Flügel aus und flog durch die Lüfte. "Was für ein großes Wesen er doch ist! Er sitzt so hoch, und kann so gut schwimmen!", rief die Kröte ihm nach.

Die Storchenmutter saß derweil im Nest und erzählte von dem Land Ägypten, von dem Wasser des Nils und von all dem köstlichen Schlamm, der in dem fremden Lande war. Das klang der kleinen Kröte ganz neu und lieblich.

"Ich muss nach Ägypten" überlegte die kleine Kröte. "Wenn mich nur der Storch mitnehmen wollte oder eines von seinen Jungen. Ja, ich komme nach Ägypten, denn das Glück ist mir hold! All die Sehnsucht und die Lust, die ich in mir trage, ist wahrhaftig besser, als einen Edelstein im Kopf zu haben!"

Die Kröte konnte einfach nicht erkennen, dass gerade sie es war, die den Edelstein hatte: die ewige Sehnsucht und Lust, aufwärts, immer aufwärts zu streben!

Da kam im selben Augenblick der Storch. Er hatte die Kröte im Gras erspäht, flog herab und packte das kleine Tier nicht eben sanft. Der Schnabel klemmte, der Wind sauste, es war nicht angenehm. Aber es ging aufwärts, aufwärts nach Ägypten. Das spürte die kleine Kröte, und darum strahlten ihre Augen. Es war, als fliege ein Funke aus ihnen heraus.

Der Körper war tot, die Kröte verendet. - Der Funke aus ihrem Auge, wo war er geblieben? Ein Sonnenstrahl nahm ihn auf und trug diesen Edelstein davon. Nur wohin?

Danach musst du den Naturforscher nicht fragen. Frage lieber den Poeten, er erzählt es dir in Form eines Märchens. Und der Kohlwurm kommt auch darin vor und die Storchenfamilie. Denk nur! Der Kohlwurm verwandelt sich und wird ein herrlicher Schmetterling! Die Storchenfamilie fliegt über Berge und Meere fort nach dem fernen Afrika und findet doch wieder den kürzesten Weg in die Heimat zurück. Er kehrt immer wieder zu demselben Ort zurück, demselben Dach! Ja, das ist wirklich märchenhaft, und doch ist es wahr. Da kannst gern den Naturforscher fragen, er wird es zugeben.

Aber was ist mit dem Edelstein in dem Kopfe der Kröte? Suche ihn in der Sonne! Suche ihn, wenn du kannst! Der Glanz dort ist zu stark. Wir haben noch keine Augen, die in all die Herrlichkeit hineinsehen können, die Gott geschaffen hat. Aber wir werden sie einstmals bekommen, und das wird das schönste Märchen! Denn darin kommen auch wir selber vor.