Die verwünschte Stadt

Im hohen Alpengebirge lag eine große, blühende Stadt. Sie war umgeben von hochragenden Bergzinnen, die ewiges Eis bedeckte. Die Stadt aber lag auf einer großen sonnigen Bergmatte, auf welcher zahlloses Vieh weidete. Denn das Volk, das jene Alpenstadt bewohnte, war ein Hirtenvolk, das abseits von den Bewohnern der tieferen Gegenden lebte. Selten zogen ein Wanderer oder ein Saumross über die Gebirgspfade, und selten sahen die Bewohner jener Gebirgsstadt einen Fremdling.

Eines Tages aber kam ein fremder Wanderer durch den Ort, eine hohe ernste Gestalt. Sein Gesicht war von bräunlicher Farbe, jedoch bleich mit langem Barte. Sein Haar schien schwarz mit grau gemischt, und sein Gewand war ein langer brauner Talar, an der Hüfte umgürtet. Der Mann war müde und der Ruhe sehr bedürftig. Doch es war sein Fluch, dass er sich nicht setzen und verweilen durfte, bevor ihn jemand dazu einlud.

Die Bewohner der Stadt sahen den fremden Mann mit einiger Scheu, und er flößte ihnen ein seltsames Grauen ein. Denn der Mann ging von Haus zu Haus, stand vor jeder Türe und wartete, dass jemand zu ihm sagte: "Setz dich nieder und raste." Aber niemand wollte sich erbarmen. Wohl aber sammelte sich das Straßenvolk mehr und mehr und gaffte dem Fremden neugierig nach. Der müde Mann stand schließlich nur noch da und seufzte.

Da trat der Stadtälteste heran, der zugleich ein Priester war, und sprach: "Höre, fremder Mann! Wer du bist, das wissen wir und sehen es dir an. Du bist kein anderer als der ewige Jude. Du bist verdammt, ewiglich zu wandern, weil du dem Heiland auf seinem Gang zum Kreuze nicht erlaubt hast, vor deinem Hause auf der Steinbank auszuruhen. Darum hebe dich aus unserer Stadt, denn du kannst und darfst hier nicht verweilen. Wir können und dürfen dich nicht pflegen und beherbergen, zu unserem eigenen Leid. Geh mit Gott, aber flott!"

Da öffnete der ewige Jude seine bleichen Lippen und sprach: "Ich werde jetzt gehen und ihr bleibt. Ihr aber werdet vergehen, und ich werde bleiben. Wenn ich zu diesem Orte wiederkomme, so werde ich hier zwar eine Stätte finden, aber keine Stadt. Und wenn ich zum dritten Male komme, so werde ich auch nicht mehr die Stätte finden, wo euere Stadt gestanden hat."

Alle, die das Wort hörten, erschraken und traten scheu zur Seite. Dann schüttelte der finstere Mann seinen Stab, schritt müden Ganges durch die gedrängten Reihen, und wanderte aus dem Orte hoch hinauf in das unwirtliche Gebirge. Keiner von allen sah in je wieder.

Seit diesem Tage wurde in jener Stadt kein neues Haus mehr errichtet, keine Herde mehrte sich, kein Kindlein wurde geboren, und manches Haus starb schon bald aus. Nach einer Reihe von Jahren standen viele Häuser bereits leer und verfielen.

Von den Bergen stürzten Lawinen auf die Stadt herab und zerschmetterten die Häuser. Bergstürze ereigneten sich, und mächtige Felsblöcke waren jetzt da, wo früher ein fröhliches Leben in den Straßen herrschte. Nach fünfzig Jahren war von der großen Stadt nur noch ein Alpendorf mit weit verstreuten Häusern geblieben. Die Bewohner mussten sich mit dürftiger Nahrung begnügen, und die Herden waren mager. Auch stiegen die Dörfler nicht mehr zu den tiefer gelegenen Ortschaften herab, und niemand stieg hinauf. So wurde endlich alles droben wüst und leer, und über die letzten Toten wölbte sich kein Grabeshügel mehr. Die Häuser verfielen und Schlammbäche von den Berggipfeln deckten alles zu.

Nach hundert Jahren kam der rastlose Wanderer wieder vorbei und erkannte an der Form des Bergrückens, wo einst die stolze Alpenstadt gestanden hatte. Hohe Bäume waren aus den Trümmern gewachsen. Auch gab es hier und da noch kleine Reste an Mauerwerk. Und mächtige Sträucher mit bunten Alpenblumen waren da emporgeschossen, wo einst die schönen Straßen lagen. Der ewige Jude seufzte und wanderte wieder rast- und ruhelos über das Hochgebirge.

Und jene Stätte, wo einst die Stadt gewesen war, wurde immer öder, kahler und schauriger. Mit den Jahren gingen die Alpensträucher aus, das Gras verdorrte, es fiel auch kein Regen mehr in dieser hohen Bergregion. Die Quellen, die früher von den Spitzen des Gebirges als reißende Wasserfälle zu Tale rauschten, froren zu Decken aus grünlichem Eis. Sie wurden zu Gletschern, und diese schoben sich über die einst so grünen Bergmatten.

So waren wieder hundert Jahre vergangen, als der ruhelose Wanderer abermals in dieses Gebirge kam. Nun fand und erkannte er die Stätte nicht mehr, auf welcher einst die blühende Stadt gestanden hatte. Er tat seinen Mund auf und sprach: "Erfüllt ist nun das Wort des Herrn, als er durch den Mund des Propheten sagte: 'Ich will meine Hand über sie ausstrecken und das Land wüst und öde hinterlassen.'"