Flucht in die Heide: Die Schlucht von Corrynakiegh

  • Autor: Stevenson, Robert Louis

Es war noch dunkel, als wir unser Ziel erreichten: eine Kluft hoch oben im Gebirge, durchflossen von einem Bergbach, an deren einer Seite sich eine enge Felsenhöhle befand. Ein lieblicher Birkenhain stand da, der allmählich in einen Fichtenwald überging. Der Bach war voll von Forellen, der Wald voll von Ringeltauben und anderen Vögeln. Unzählige Kuckucke ließen ihre Rufe erschallen. Durch eine Öffnung in der Kluft blickten wir hinunter auf das Land und einen Meeresarm. Es war herrlich dazusitzen und alles mit freiem Blick zu betrachten.

Fünf glückliche Tage verbrachten wir hier. Wir schliefen in der Höhle, machten uns ein Lager aus Heidekraut und deckten uns mit Alans großem Mantel zu. An einer verborgenen Stelle konnten wir sogar ein Feuer anzünden. Wir bereiteten warme Hafergrütze und rösteten kleine Forellen, die wir mit den Händen fingen, was uns viel Spaß bereitete.

Alan bestand darauf, mich im Gebrauch des Degens zu unterweisen. Die Übungsstunden waren hart, und oft war ich drauf und dran, die Sache aufzugeben. Ich hielt aber durch, nur meinen Lehrer konnte ich nie zufrieden stellen.

Wir vergaßen aber bei alldem nicht unser Vorhaben. Alan überlegte, wie er Jakob eine Nachricht zukommen lassen könnte, damit er Geld für uns auftreibt.

Er ergriff Holz und formte daraus ein Kreuz, dessen vier Enden er an der glimmenden Kohle unseres Feuers schwärzte. Dann fragte er mich etwas scheu: "Würdest du mir bitte meinen Knopf leihen? Es mag ungewöhnlich erscheinen, wenn man ein Geschenk zurückerbittet, aber ich gestehe dir, dass ich nicht noch einen abschneiden möchte."

Ich gab ihm den Knopf. Er fädelte ihn an einem Streifchen seines Mantels auf, womit er das Kreuz festgeschnürt hatte. Dann befestigte er daran einen kleinen Birken- und einen Fichtenzweig und betrachtete sein Werk mit Genugtuung.

Alan erklärte mir: "In der Nähe wohnen viele Freunde von mir, denen ich getrost mein Leben anvertrauen würde, aber auch einige, bei denen ich mir nicht sicher bin. David, inzwischen sollte ein Preis auf unseren Kopf ausgesetzt sein - von Jakob und auch von den Campbells. Da es so steht, wäre es mir lieber, wenn mich die Leute nicht sehen. Schlechte Kerle gibt es überall. Wenn es dunkel wird, werde ich mich anschleichen und dieses Kreuz in das Fenster eines guten Freundes von mir stellen. Er heißt John und ist ein Viehpächter."

"Schön,", entgegnete ich, "und wenn der Mann das Ding findet, was soll er sich dabei denken?"

"Dieses Kreuz erinnert einigermaßen an die Pechkreuze oder Feuerkreuze, die das Zeichen zum Sammeln für unsere Clans sind. Er wird hoffentlich wissen, dass der Clan sich nicht sammeln soll, denn das Kreuz steht ja nur in seinem Fenster. So wird er sich sagen: Der Clan soll nicht aufgerufen werden, aber irgendwas ist los! Dann wird er meinen Knopf sehen und wird sich sagen: Der Sohn von Duncan Stuart ist in der Heide und braucht mich.

Dann wird John die beiden kleinen Zweige sehen: Birke und Fichte. Dann weiß er: Alan muss in einem Wald sein, wo es beides gibt, Birken und Fichten. Dann wird er sich überlegen, dass das hier in der Gegend nicht so häufig ist und schließlich wird er zu uns kommen. Wenn er das nicht tut, David, mag ihn von mir aus der Teufel holen!"

"Lieber Freund", sagte ich nun ein wenig spöttisch, "du bist ein großer Erfinder. Aber wäre es nicht vielleicht einfacher, wenn du ihm ein paar Zeilen schreiben würdest?"

"Eine vorzügliche Bemerkung, Mister Balfour von Shaws", erwiderte Alan nun seinerseits etwas spöttisch, "Ja sicher wäre es sehr viel einfacher für mich, ihm zu schreiben. Aber es wäre eine zu schwere Aufgabe für John, das Geschriebene zu entziffern."

In der Nacht trug Alan das Feuerkreuz hinunter und legte es in das Fenster seines Viehpächters.

Gegen Mittag entdeckten wir einen Mann, der den Berghang empor kletterte und sich suchend umblickte. Kaum hatte Alan ihn erblickt, so pfiff er. Der Mann wandte sich in die Richtung des Pfiffes und kam näher. Durch weitere Pfeiftöne führte ihn Alan genau zu uns.

John war ein zerlumpter, wilder, bärtiger Mann von etwa vierzig Jahren. Er sah etwas blöd und ziemlich ruppig aus.

Alan wünschte, dass er Jakob eine Botschaft überbringt, aber davon wollte er nichts wissen. Er wolle einen Brief haben, da er eine mündliche Nachricht vergessen würde.

Wieder zeigte Alan seinen Erfindungsgeist: Er suchte die Feder einer Ringeltaube, die er als Schreibfeder zurecht schnitt. Dann machte er eine Art Tinte von Schießpulver und Wasser, riss ein Stück Papier von seinem französischen Offizierspatent ab, das er in der Tasche trug wie einen Talisman, der ihn vorm Galgen schützen sollte und schrieb diese Worte:

Lieber Stammesgenosse, ich bitte dich, sende das Geld durch den Überbringer zu der Stelle, die dieser kennt.

Dein wohlgesinnter Vetter A.S."

Dies übergab er dem Viehpächter, der versprach, sich zu beeilen.

Er war volle drei Tage weg gewesen, als wir im Wald ein Pfeifen vernahmen, auf das Alan sofort antwortete. Bald darauf erschien der Bote, blickte sich nach rechts und links um und schien sehr befriedigt darüber, den gefährlichen Auftrag erledigt zu haben.

Er brachte uns die jüngsten Nachrichten mit. Die ganze Gegend war voller Rotröcke. Man hatte Waffen gefunden und täglich wurden arme Menschen umgebracht. Jakob und einige seiner Bediensteten waren schon im Gefängnis unter dem Verdacht der Mittäterschaft. Gegen Alan und mich war ein Steckbrief erlassen worden, und auf unsere Gefangennahme waren zweihundert Pfund Belohnung ausgesetzt.

Das alles war schlimm, und der Brief von Mrs. Stuart, den er mitgebracht hatte, war elend und traurig. Sie beschwor Alan, sich nicht ergreifen zu lassen, denn fiele er erst in die Hände der Rotröcke, so seien er und Jakob so gut wie tot. Das Geld, das sie mitschicke, sei alles, was sie habe zusammenbetteln und borgen können. Sie schickte auch einen Steckbrief mit, auf dem wir beschrieben waren.

Neugierig besahen wir das Papier. Alan war mit seiner Beschreibung und der seiner französischen Uniform zufrieden. Ich fand, dass ich elend dargestellt war. Da ich ja aber die Lumpen aus der Zeit des Überfalls nicht mehr trug, bildete die falsche Beschreibung keine Gefahr mehr für mich. Sie war eher eine gewisse Sicherheit.

Ich sagte Alan, dass er seine Kleider wechseln sollte, was er entschieden ablehnte.

Da kam mir ein neuer Gedanke: Wenn ich mich von Alan und seiner verräterischen Kleidung trennen würde, so wäre ich bestimmt vor einer Festnahme sicher. Und wenn ich doch einmal festgenommen würde, so lag nur wenig gegen mich vor. Würde ich aber in Gesellschaft des vermeintlichen Mörders des Roten Fuchses ergriffen, so wäre der Fall schon schwerer.

Diese Gedanken gingen mir immer wieder durch den Kopf, ganz besonders aber, als der Pächter eine grüne Börse herauszog, die vier Goldguineen und eine Menge Kleingeld enthielt. Dieses Geld sollte für Alan reichen, um bis nach Frankreich zu kommen.

Alan wollte nun noch seinen Knopf von dem Boten zurück haben. Dieser durchsuchte umständlich seine Kleider und meinte dann, dass er ihn wohl verloren hätte.

"Was?", schrie Alan. "Du willst meinen Knopf verloren haben? Den Knopf, der vor mir meinem Vater gehört hat? John, das ist das Übelste, was du vollbracht hast, seit du geboren wurdest!"

Ganz plötzlich fand dieser den Knopf doch, und Alan gab ihn mir zurück. Dabei sagte er: "Hier hast du den Knopf zurück, und ich danke dir dafür, dass du ihn hergegeben hast. Es gehört zu den vielen Beweisen deiner Freundschaft für mich. Du hast mir einen großen Dienst getan und deinen Hals für mich gewagt. Ich werde immer nur gut von dir sprechen."

Nachdem der Viehpächter gegangen war, machten auch Alan und ich uns auf den Weg.