Ödipus, die Verbannung

  • Autor: Schwab, Gustav

Nun wusste es das ganze Volk von Theben, dass Ödipus den alten König Laios ermordet hatte. Nicht genug damit hatte Ödipus auch noch die königliche Witwe Iokaste, seine eigene Mutter, zur Gemahlin genommen. Was half es da, dass er dies alles unbewusst und ohne Vorahnung tat.

Jetzt aber, in der ersten Stunde der Entdeckung, wäre Ödipus ein schneller Tod das Liebste gewesen. Ja, er hätte es sogar als gerecht empfunden, wenn das Volk sich gegen ihn erhoben hätte. Doch sein königlicher Schwager Kreon willigte in die Verbannung ein.

Als Ödipus noch zu Hause auf die Stunde des Abschieds wartete, da erschien es ihm plötzlich grässlich, als Namenloser in der Fremde umherzuirren. War es nicht schon Strafe genug, dass seine Gemahlin und Mutter Iokaste tot war? Und hatte er nicht Buße getan, indem er sich eigenhändig das Augenlicht nahm?

Bei all diesen Fragen überkam Ödipus wieder die Liebe zur Heimat. Er wünschte sich zu Hause zu bleiben, und sagte es auch Kreon und seinen beiden Söhnen. Kreon aber ließ ihm jetzt keine Wahl mehr. Und die Söhne, deren erste Pflicht es doch war, dem Vater zu helfen, verweigerten den Beistand.

Ohne Mitleid gab man Ödipus den Bettelstab an die Hand und stieß ihn zum Königspalaste von Theben [1] hinaus. Nur seine Töchter fühlten kindliches Erbarmen. Die jüngere Tochter Ismene blieb im Hause ihrer Brüder zurück, um hier der Sache des Vaters zu dienen. Die ältere, Antigone, teilte mit dem Vater die Verbannung und lenkte die Schritte des Blinden.

Anfangs war es noch Ödipus Wille gewesen, in einer Wüstenei am Berge Kithairon sein Leben zu fristen. Doch er war ein frommer Mann und wollte auch diesen Schritt nicht ohne den Willen der Götter tun. So pilgerte er zum Orakel des Apollon in Delphi [2].

Die Götter erkannten nun, dass Ödipus sich nicht absichtlich gegen die Gesetze von Mensch und Natur versündigt hatte. Ein Buße wollten sie ihm dennoch auferlegen, auch wenn diese nicht ewig währen sollte. Darum eröffnete ihm der Gott: "Nach langer Frist wirst du Erlösung finden, wenn du zu dem Lande gelangst, das vom Schicksal vorbestimmt ist. Dort, wo die ehrwürdigen Göttinnen, die strengen Erinyen [3], dir Zuflucht gewähren."

Der Orakelspruch lautete rätselhaft und schauerlich. Nirgendwo, außer bei den Rachegöttinnen, sollte Ödipus Ruhe und Erlösung finden! Dennoch vertraute er auf die Verheißung des Orakels. Er zog mit seiner frommen Tochter Antigone in Griechenland umher und lebte von den Almosen der mitleidigen Menschen. Ödipus bat Immer nur um weniges und erhielt auch nur weniges. Aber er begnügte sich damit; denn die Not und seine edle Sinnesart lehrten ihn Genügsamkeit. So blieb es lange dem Schicksal überlassen, wann sich die Weissagung erfüllen sollte.

Erklärungen:

[1] Theben ist eine griechische Stadt, die rund 50 Kilometer nordwestlich von Athen liegt.

[2] Apollon, ein Sohn von Zeus, ist der Gott der Weissagung. Sein berühmtestes Orakel stand im griechischen Delphi.

[3] Die Erinyen sind Rachegöttinnen. Sie verfolgen Mörder und Meineidige, und treiben diese mit ihrem fürchterlichen Anblick in den Wahnsinn. Bei den Römern sind es die Furien.