Ödipus, sein Lebensende

  • Autor: Schwab, Gustav

Der blinde Ödipus hatte im Hain von Kolonos zusammen mit seinen beiden Töchtern Ismene und Antigone eine neue Heimat gefunden. Doch ein ruhiges und besinnliches Auskommen war ihm noch nicht beschieden.

König Theseus von Athen brachte ihm die Nachricht, dass sich ein Blutsverwandter von Ödipus im Schutze des benachbarten Poseidontempels [1] niedergelassen habe.

"Das ist mein niederträchtiger Sohn Polyneikes", rief Ödipus zornig. "Es wäre mir unerträglich, ihn anhören zu müssen!" Doch Antigone, die ihren Bruder liebte, wusste den Vater zu besänftigen.

So kam es zu einem Treffen zwischen Vater und Sohn. Polyneikes, der einst wie Ödipus auf dem Throne von Theben [2] gesessen hatte, warf sich vor seinem Vater nieder und umschlang seine Knie. Dann blickte er auf und sah die armselige Bettlerkleidung, die hohlen Augen und das ungekämmte Greisenhaar. "Ach, zu spät erfahre ich dieses hier", rief er. "Ja, ich muss eingestehen, dass ich das Andenken an meinen Vater vergessen habe! Was wäre aus ihm geworden, wenn er nicht die Fürsorge meiner Schwester Antigone gehabt hätte! Ich habe mich schwer an dir versündigt, Vater. Vergib mir!"

"Sage mir, mein Bruder", sprach Antigone, "was führt dich zu uns? Vielleicht öffnet deine Rede ja auch die Lippen deines Vaters!" Da erzählte Polyneikes, wie ihn der jüngere Bruder Eteokles in Theben vom Throne gestoßen hatte. Er musste fliehen, fand aber Aufnahme beim König von Argos, der ihm seine Tochter zur Gemahlin gab. So schmiedete Polyneikes dann ein Bündnis mit sieben anderen Fürsten und umringte das Land der Thebaner.

Nun war er auch zu seinem Vater Ödipus gekommen, um sich mit ihm gegen den thronräuberischen Bruder zu verbünden. Zum Dank für seine Mithilfe sollte Ödipus wieder als rechtmäßiger König von Theben eingesetzt werden.

Diese unerwartete Angebot vermochte den gekränkten Vater aber nicht zu erweichen. "Du Verruchter!" sprach er und ließ den Sohn weiter am Boden knien. "Als der Thron und das Zepter noch in deiner Hand waren, hast du den blinden Vater in dieses Bettlerkleid gehüllt und verstoßen. Was bemitleidest du mich, jetzt, wo die Not auch über dich gekommen ist! Du und dein Bruder, ihr seid nicht meine wahren Kinder. Nur durch meine Töchter lebe ich noch, und selbst die Götter haben euch Rache geschworen. Höre also, du wirst deine Vaterstadt nicht vertilgen. Und du wirst in deinem Blute liegen, genau wie dein Bruder in dem seinen. Dies ist die Antwort, die du deinen Bundesfürsten bringen kannst!"

Darauf näherte sich Antigone ihrem Bruder, der entsetzt aufgesprungen und einige Schritte rückwärts gewankt war. "Ich flehe dich an", rief Antigone, "gehe mit deinen Verbündeten zurück nach Argos und verschone deine Vaterstadt!" "Das ist nicht mehr möglich", erwiderte Polyneikes zögerlich. "Die Flucht brächte mir Schmach und Verderben! Auch wenn wir Brüder elendiglich zugrunde gehen müssen, wir können nie mehr Freunde sein!" So sprach er, wand sich aus den Armen der Schwester und stürzte verzweifelt davon.

Ödipus hatte seine beiden Söhne nun den Rachegöttinnen preisgegeben. Mächtige Donnerschläge rollten über den Himmel, und das ganze Land hüllte sich in stürmische Finsternis. Der blinde Greis verstand diese Warnung sehr wohl und verlangte König Theseus zu sprechen. Dieser kam auch herbei, worauf Ödipus seinen feierlichen Segen über die Stadt Athen sprach. Dann forderte er Theseus auf, ganz allein mit ihm an die Stelle zu gehen, wo sein Leben enden sollte. Ödipus verlangte aber auch, dass Theseus über das Kommende auf ewig schweigen solle. Denn nur so könne sein heiliges Grab eine feste Schutzwehr gegen alle Feinde Athens sein.

Nach diesen Worten schritt Ödipus mit sicheren Schritten voran und führte Theseus in die dunklen Tiefen des heiligen Hains von Kolonos. Theseus durfte Ödipus dabei nicht berühren. Er, der Blinde, bisher von seiner Tochter geleitet, schien auf einmal sehend und fand das ihm vorbestimmte Ziel.

Mitten in dem Haine der Erinnyen [3] war ein schauerlicher Erdschlund. Davor lag ein großer Stein, der den Eingang der Höhle zu bewachen schien. Ödipus setzte sich darauf und bat König Theseus um eine Hand voll Wasser. Dieser schöpfte es aus einem alten hohlen Baume. Ödipus löste den Gürtel von seinem schmutzigen Bettlerkleide, ließ das Wasser über sich rinnen und reinigte so seinen Körper von allem Ungemach.

Schon vernahm er ein mächtiges Grollen in der Tiefe und eine donnernde Stimme sprach: "Was zögerst du noch, Ödipus?" Da wusste er, dass die Arme der Götter auf ihn warteten. Ödipus wandte sich noch ein letztes Mal an Theseus und bat ihn um Schutz für seine beiden Töchter. Dann befahl Ödipus dem König, sich zu entfernen, ohne sich umzuwenden. Theseus gehorchte und ging langsam davon, doch nichts wollte sich rühren.

Die Ungewissheit brachte den König nun in große Sorge, darum kehrte er entgegen seinem Versprechen zurück. Von Ödipus war aber weit und breit keine Spur geblieben. Das dunkle Tor zur Unterwelt schien sich sanft und lautlos für ihn aufgetan zu haben. So war der blinde Greis wie auf Geisterflügeln seiner Erlösung entgegen gegangen.

Theseus aber sank überwältigt auf die Knie und richtete ein Dankgebet an die Götter der Unterwelt. Dann kehrte er zu den Töchtern von Ödipus zurück, stellte sie unter seinen väterlichen Schutz und hüllte sich über das Geschehen fortan in tiefes Schweigen.

Die beiden Söhne von Ödipus stritten aber auch weiterhin um den Thron von Theben. Doch ihr Schicksal wollte es, dass sie im Zweikampf beide zu Tode kamen.

Erklärungen:

[1] Poseidon ist der Gott des Meeres. Sein Wahrzeichen ist der Dreizack. Bei den Römern steht Neptun an seiner Stelle.

[2] Theben ist eine griechische Stadt, die rund 50 Kilometer nordwestlich von Athen liegt.

[3] Die Erinyen sind die Rachegöttinnen. Sie verfolgen Mörder und Meineidige, und treiben diese mit ihrem fürchterlichen Anblick in den Wahnsinn. Bei den Römern sind es die Furien.