Die Königstochter in der Flammenburg

  • Autor: Haltrich, Josef

[von Josef Haltrich]

Es war einmal ein armer Mann, der hatte so viele Kinder, wie Löcher in einem Sieb sind. Er hatte alle Leute in seinem Dorfe schon zu Paten gemacht, als ihm nun wieder ein Sohn geboren wurde. Da setzte sich der arme Mann an die Landstraße und wartete, bis jemand vorbeikam. Es war ein alter Mann in einem grauen Mantel, und dieser war damit einverstanden, der Pate des Kindes zu sein. Er ging also mit und half, den Knaben zu taufen. Der alte Mann schenkte dem armen Mann auch noch eine Kuh und dem Kind das zugehörige Kalb. Das alles geschah an demselben Tage, an welchem der Knabe mit einem goldenen Stern auf der Stirn zur Welt gekommen war.

Als der Knabe größer war, ging er mit seinem Rind, das jetzt ein großer Stier war, jeden Tag auf die Weide. Der Stier aber konnte sprechen. Jedes Mal, wenn sie auf dem Berg angekommen waren, sagte er zum Knaben: "Bleibe hier und schlafe. Ich will mir schon meine Weide suchen." Sobald der Knabe schlief, rannte der Stier wie der Blitz fort und kam auf die große Himmelswiese, wo er goldene Sternblumen fraß. Wenn die Sonne dann unterging, eilte er zurück und weckte den Knaben, um nach Hause zu gehen. So geschah es jeden Tag, bis der Knabe zwanzig Jahre alt war. Da sprach der Stier eines Tages zu ihm: "Setz dich zwischen meine Hörner, und ich trage dich zum König. Verlange von ihm ein eisernes Schwert und sage ihm, dass du seine Tochter erlösen willst."

Der Jüngling setzte sich also zwischen die Hörner, und sie gelangten schon bald zur Königsburg. Dort stieg der Jüngling ab und ging, wie befohlen, zum König. Der gab gerne das verlangte Schwert, aber er hatte wenig Hoffnung, seine Tochter wiederzusehen. Schon oft hatten kühne Burschen es vergeblich gewagt, die Tochter aus den Klauen eines Drachen zu befreien. Dieses Untier hatte zwölf Häupter und wohnte dort, wo niemand hingelangen konnte. Denn auf dem Wege dorthin musste man ein riesiges Gebirge und ein stürmisches Meer überwinden. Darüber hinaus lebte der Drache in einer Flammenburg. Wenn es nun jemandem gelungen wäre, diesen Ort zu erreichen, so hätte er die mächtigen Flammen nicht durchdringen können. Wäre es aber doch gelungen, so hätte ihn der Drache am Ende umgebracht.

Als der Jüngling nun das Schwert bekommen hatte, setzte er sich wieder zwischen die Stierhörner. Der rannte geschwind wie der Wind, und sie kamen an dem großen Gebirgswall. "Da können wir ja gleich wieder umkehren", sagte der Jüngling zu dem Stier. Der erwiderte: "Warte einen Augenblick", und setzte den Jüngling zu Boden. Kaum war das geschehen, nahm der Stier einen Anlauf und schob das ganze Gebirge mit seinen gewaltigen Hörnern auf die Seite.

Nun setzte sich der Jüngling wieder zwischen die Hörner, und schon bald waren sie an dem stürmischen Meer. "Jetzt müssen wir umkehren" sprach der Jüngling traurig, denn die Wellen tobten wild. "Warte einen Augenblick", sprach der Stier, "und halte dich an meinen Hörnern fest." Da neigte der Stier den Kopf zum Wasser und soff das ganze Meer aus, worauf sie trockenen Fußes weiterziehen konnten.

Nun kamen sie zu der Flammenburg, wo ihnen die Feuerglut wie eine heiße Wand entgegenkam. Der Jüngling konnte es nicht aushalten und rief: "Halte ein, mein Stier, sonst müssen wir verbrennen." Der Stier aber lief ganz nahe heran und spuckte auf einmal das Meerwasser in die Flammen. Das Feuer war erloschen, doch es qualmte und zischte, und der ganze Himmel war mit düsteren Rauchwolken bedeckt.

Nun stürzte der Drache voll Wut aus dem Dampfe hervor. "Jetzt ist es an dir!", rief der Stier dem Jüngling zu. "Siehe zu, dass du dem Ungeheuer alle zwölf Häupter auf einmal abschlägst!" Der Jüngling nahm all seine Kraft zusammen, fasste das gewaltige Schwert mit beiden Händen und versetzte dem Ungeheuer einen schrecklichen Schlag, dass sämtliche Häupter herunterflogen. Das Untier ringelte sich aber noch so heftig, dass die Erde erzitterte. Da nahm der Stier den Drachenkörper auf seine Hörner und schleuderte ihn für immer fort in die Wolken.

Dann sprach der Stier zum Jüngling: "Mein Dienst ist nun zu Ende. Gehe jetzt ins Schloss und führe die Königstochter heim zu ihrem Vater!"Dann rannte er fort auf die Himmelswiese, und verschwand für immer.

Der Jüngling aber fand die Königstochter und brachte sie wohlbehalten zurück. Der König war glücklich und legte die Hand seiner Tochter in die Hände des Jünglings. Kurz darauf wurde eine prächtige Hochzeit gehalten, und es war große Freude im ganzen Lande.