Tschunis

Es war einmal ein Mann, der hatte einen Sohn mit dem Namen Tschunis. Der Vater hatte gerade ein neues Haus gebaut und sprach zu seiner Familie: "Heute ist es soweit, wir können endlich einziehen. Morgen soll jeder seinen ersten Traum erzählen." Beim Frühstück erzählten die Eltern und die Tochter, was sie alles in der Nacht geträumt hatten. Nur Tschunis wollte es nicht sagen. Der Vater redete mit ernsten Worten auf ihn ein und drohte schließlich mit Schlägen. Der Junge aber schwieg wie ein Grab und ließ sich durch nichts bekehren.

Der Vater wurde ganz rot und blau vor Zorn. Er tobte herum und befahl dann seinen Knechten: "Jagt den Bengel in den Wald hinaus. Ich will ihn nicht mehr sehen!"

§16

Alle Kinder dürfen Geheimnisse haben!
Du darfst Geheimnisse haben. Deine Briefe, deine Tagebücher und auch deine Träume gehören nur dir selbst, und niemand darf darin herumschnüffeln. Es gibt aber Situationen, wo sich deine Eltern einmischen dürfen. Denn sie haben auch die Aufgabe, dich zu erziehen. In diesem Märchen hier hat der Vater nicht das Recht Tschunis zu zwingen, seinen Traum zu erzählen.

Die Knechte gehorchten und führten Tschunis wie einen Gefangenen in den Wald. Da traf es sich, dass der Königssohn ihnen begegnete. Er sprach: "Was hat dieser Junge denn angestellt?" Die Knechte erzählten es ihm. "Ich werde euch zehn Taler für ihn geben", sprach der Prinz, "aber der Handel muss ein Geheimnis bleiben." Die Knechte waren zufrieden und versprachen, den Prinzen gleich wieder zu vergessen. So gelangte Tschunis an den Königshof, wo er sich unsterblich in die Tochter des Königs verliebte.

Eines Tages richtete der König ein großes Fest aus, aber die Gäste langweilten sich fast zu Tode. "Wartet", rief der Prinz, "ich werde meinen Hausburschen Tschunis rufen. Er soll uns einen Traum erzählen, den er sogar vor seinem Vater verschwiegen hat." Tschunis kam in die Saal, doch der Prinz konnte ihm kein einziges Wort entlocken. "Was bildest du dir ein", rief der Prinz, "du musst mir doch gehorchen." Tschunis aber weigerte sich standhaft. Da sprach der Prinz: "Nun gut, so soll es sein. Hängt ihn an den nächsten Galgen." Vier Diener stürzten jetzt herbei und schleppten Tschunis zur Türe. Da warf sich die Königstochter vor den Prinzen und bat, er möge den Jungen schonen. Der Prinz war sehr erstaunt und sprach: "Wie könnte ich meiner liebsten Schwester etwas abschlagen. Bringt den Burschen also in den Kerker." Dort besuchte die Königstochter Tschunis jeden Tag und gab ihm heimlich Speisen.

So vergingen die Tage, und der Prinz beschloss, sich eine Braut in einem fernen Land zu suchen. Erst nach einem Jahr wurde am Königshof bekannt, wohin der Prinz gezogen war, und welche Braut er sich nehmen wollte. Das erzählte die Königstochter auch Tschunis, worauf dieser sprach: "Dein Bruder behandelt mich sehr schlecht, doch will ich ihn wohl retten. Denn mein Traum hat mir einst offenbart, dass seine Braut in Wahrheit eine Hexe ist."

Als die Königstochter das hörte, eilte sie zu ihrem Vater und drängte ihn, Tschunis die Freiheit zu schenken. Der König sprach: "Wenn der Bursche meinen Sohn retten kann, dann soll er es versuchen." Noch am selben Tage machte sich Tschunis fertig für die lange Reise. Die Königstochter hängte ihm zum Abschied ein kleines Seidenbändchen um und flüsterte: "Dieses Band der Liebe wird dich immer vor der Hexe schützen."

Auf seinem Weg traf Tschunis zwei große Kerle, die miteinander kämpften. "Warum habt ihr euch so heftig in den Haaren?", rief er. Da sprach der Eine: "Wir streiten uns um die Schuhe unseres verstorbenen Vaters. Wer diese Schuhe an den Füßen hat, der kommt in Windeseile an jeden Ort." "Hört mal", sprach Tschunis, "ich werde einen Stein nehmen und ihn dort auf den Acker werfen. Wer ihn zuerst findet, der bekommt die Schuhe." Die wilden Kerle waren einverstanden und Tschunis warf den Stein. Kaum waren die Kerle auf den Acker gerannt, nahm er die Schuhe an sich, und verschwand in Windeseile.

Nach einiger Zeit sah er wieder zwei Burschen, die miteinander kämpften. "Worum geht es in dem Streit?", fragte Tschunis. Die Burschen antworteten: "Um den Zaubermantel unseres Großvaters. Wenn man den anzieht, macht er einen unsichtbar." "Hört auf zu streiten!", rief Tschunis. "Ich will euch etwas vorschlagen. Ich werde einen Stein nehmen und ihn dort in die Wiese werfen. Wer den Stein zuerst findet, darf den Mantel behalten." Die Burschen waren einverstanden, und der Stein flog im hohen Bogen in die Wiese. Die beiden Burschen rannten hinterher, und Tschunis machte sich mit dem Mantel davon.

Am anderen Tag sah er wieder zwei Kerle, die sich in den Haaren lagen. "Was gibt es hier zu streiten?", fragte Tschunis. Einer sprach: "Wir streiten um die Mühle unserer verstorbenen Mutter. Dreht man die Mühle rechts herum, so fliegt man mit ihr durch die Lüfte. Dreht man sie aber links herum, so schrumpft die Mühle auf Taschengröße zusammen." "Streitet nicht länger!", rief Tschunis. "Ich werde euch jetzt helfen. Ich nehme einfach einen Stein vom Boden und werfe ihn dort in den Wald. Wer den Stein als Erster findet, der soll die Mühle behalten." So geschah es, und die beiden Kerle rannten schnurstracks in den Wald. Da nahm Tschunis die Mühle, drehte sie kurz links herum und steckte sie in seine Hosentasche. Dann machte er sich davon.

Tschunis eilte jetzt zu dem Palast, wo der Prinz mit seiner Hexenbraut lebte. Dort zog er sich den Zaubermantel über, um ungesehen in den Palast zu gelangen. Der Prinz saß noch mit der Hexe beim Mittagsmahl, wo sie auch über die Hochzeit redeten. "Lass uns nach dem Essen schon mal meine Hochzeitsschuhe besorgen", sprach die Hexe. "Wir können ja einen kleinen Wettstreit daraus machen. Jeder nimmt einen anderen Weg. Wenn du, mein Prinz, die schöneren Schuhe bringst, so will ich dir in dein Land folgen. Gelingt es aber mir selbst, die schönsten Schuhe zu bringen, dann musst du hier im Lande bleiben."

Der Prinz ließ sich darauf ein, und sie gingen beide fort, um die schönsten Schuhe für die Hexe zu suchen. Tschunis folgte der Hexe und sah, wie sie einem Schuster magisches Leder gab, das wunderschön funkelte. Tschunis eilte nun ungesehen zum Prinzen. Dieser hatte zwar einen guten Schuster gefunden, aber das Leder konnte sich an Glanz nicht mit dem Hexenleder messen. Als der Prinz den Schusterladen wieder verließ, schlüpfte Tschunis heimlich in die Werkstatt und nahm das Leder des Prinzen an sich. Dann lief er in Windeseile zum Schuster der Hexe, vertauschte dort die Lederstücke und nahm das Hexenleder an sich. So kam es schließlich, dass der Schuster des Prinzen die Schuhe aus dem Hexenleder machte.

An nächsten Morgen ließen sich Prinz und Hexe die prächtigen Schuhe bringen. Die Hexe erschreckte sich fast zu Tode, als sie die Schuhe des Prinzen sah, denn sie waren aus dem Hexenleder gemacht. Die Hexe wusste wohl, dass man sie betrogen hatte, aber sie konnte es nicht beweisen.

In ihrem Ärger verlangte die Hexe vom Prinzen einen weiteren Wettstreit, der jetzt aber um das Hochzeitskleid gehen sollte. Sie sprach: "Jeder von uns beiden muss ein Kleid für mich fertigen lassen. Wenn du, mein Prinz das schönere Kleid hast, werde ich dir in dein Land folgen. Habe aber ich das schönste Kleid, musst du hier bei mir bleiben."

Tschunis hatte wieder seinen unsichtbaren Zaubermantel angelegt und hörte alles mit. Die Hexe verschaffte sich nun einen prächtigen Hexenstoff und übergab ihn einer fleißigen Schneiderin zum Nähen. Tschunis sah es, und ging wieder zu dem Prinzen, der gerade bei einem Schneider war. Schon bald musste Tschunis erkennen, dass die Stoffe des Schneiders dem Hexenstoff weit unterlegen waren. Darum tauschte Tschunis die Stoffe wieder heimlich miteinander aus.

Am anderen Morgen ließen sich Prinz und Hexe die herrlichen Kleider bringen. Der Prinz freute sich wie ein Kind, weil er schon wieder gewonnen hatte. Das wollte die Hexe nicht auf sich sitzen lassen. Sie redete lange auf den Prinzen ein, bis er ihr einen letzten Wettstreit gewährte. Sie sprach: "Ich will bei der Hochzeit silberne Haare tragen. Wer von uns die meisten Silberhaare herbeibringen kann, der darf bestimmen, in welchem Land wir nach der Hochzeit leben.

Tschunis folgte der Hexe unsichtbar in den Wald, wo sie sich auf ein umgefallenes Bäumchen setzte. Das Bäumchen aber begann plötzlich zu schweben und erhob sich mit der Hexe in die Lüfte. Da zog Tschunis die kleine Mühle aus seiner Tasche hervor, drehte sie kurz nach rechts und flog der Hexe eilig hinterher. Das Bäumchen trug die Hexe nun auf das Meer hinaus, wo tosende Wellen rauschten. Mit einem Male kam ein riesiger Kopf daraus hervor, der zweifellos dem alten Meeresgreis gehörte. Die Hexe flog zu ihm herunter und griff ihm in die silbernen Haare, doch sie konnte nur ein kleines Büschel erbeuten. Das reichte ihr aber, denn sie glaubte nicht daran, dass der Prinz es ihr nachmachen könnte. Die Hexe flog also davon, worauf sich der unsichtbare Tschunis an den Meeresgreis heranmachte. Mit einem Ruck zog er ihm eine ganze Silberlocke aus und brachte sie dem Prinzen.

Am nächsten Morgen hielt die Hexe stolz ihre Silberhaare in der Hand, doch der Prinz gab ihr gleich die ganze Silberlocke. Nun musste die Hexe klein beigeben und sprach: "Ich werde dir als Braut in dein Land folgen." Da nahm Tschunis seine Mühle und flog dem Brautpaar voraus.

Nach der Ankunft des Brautpaares richtete der König sogleich eine Hochzeitsfeier aus, bei der sich Tschunis als einfacher Ritter verkleidete. Der König reichte ihm eine Schale mit dem Hochzeitstrunk. Tschunis nahm die Schale an sich und knüpfte sein Liebesband, das die Königstochter ihm gegeben hatte, an den Griff. Dann reichte er die Schale an die Hexenbraut weiter und sprach: "Wenn ihr mir diese Schale mit ruhiger Hand zurückgeben könnt, habt ihr auch meinen Segen." Die Hexe lachte und nahm die Schale ahnungslos in die Hand. Da zerfiel die Hexe plötzlich von oben bis unten zu einem Häuflein Asche.

Tschunis aber heiratete noch am gleichen Tage die geliebte Königstochter, und sie hatten noch viele glückliche Tage.