Der König ist tot

  • Autor: Twain, Mark

Tom erwachte am nächsten Tag bereits in der Morgendämmerung aus einem tiefen Erschöpfungsschlaf. Zuerst glaubte er, er hätte geträumt und läge in der Kehrichtgasse auf seinem Lager. Er rief: "Hey, Nan und Bet! Kommt leise zu mir, ich muss euch von meinem Traum erzählen."

Neben seinem Bett tauchte ein Fremder auf und sagte: "Was wünschen Sie, Hoheit?"

Da erkannte Tom, dass er nicht geträumt hatte. Er lag im Bett des Prinzen und alle Welt glaubt, er sei König Edward von England. Verzweifelt schlug Tom die Arme über den Kopf und schlief wieder ein. Er träumte eine schöne Geschichte von Reichtum und Wohlergehen. Gerade drückte ihn im Traum seine Mutter an ihre Brust und fragte: "Belieben Euer Majestät nun aufzustehen?"

Tom war erstaunt ob dieser unerwarteten Antwort. Er öffnete seine Augen und blickte direkt in die Augen des vor seinem Bett knienden Lord Oberkämmerer. Das wohlige Gefühl aus seinem Traum schwand dahin und ihm wurde klar, dass er immer noch im Palast weilte, als Gefangener und König zugleich. In seinem Zimmer wimmelte es nur so von Bediensteten in roten Mänteln. Rot war nämlich die Farbe der Hoftrauer. Tom setzte sich auf.

Ihn erwartete die umständliche Ankleidezeremonie. Jeder Höfling kniete vor dem Bett nieder und brachte dem kleinen König die aufrichtige Anteilnahme am Tod des Königs zum Ausdruck. Gleichzeitig wurde das Hemd von einem Diener an den Obergewandmeister weitergegeben, dieser reichte es dem Lord Hofjagdmeister, danach ging es weiter zum Zweiten Kämmerer und danach zum Lord Oberforstmeister. Von Dritten Kämmerer ging es noch über allerlei wichtiger Leute Hände, bis es endlich bei Lord Oberkämmerer landete, der es Tom anzog. Der arme Tom blickte höchst verwundert in diese Runde!

So ging es fort mit jedem Kleidungsstück. Tom wurde ungeduldig und freute sich, als er endlich seine Hose auf dem Rundgang durch die Herrenhände erblickte. Doch der Lord Oberkämmerer entdeckte, dass an der königlichen Hose ein Quastenknopf fehlte. Empört hob er sie dem Erzbischof von Canterbury unter die Augen und gab sie dann wieder auf demselben Weg zurück, wie sie gekommen war. Aber danach bekam Tom endlich eine Hose angezogen und er durfte aus dem Bett steigen.

Nach der Waschzeremonie sah Tom tatsächlich königlich aus. Er trug einen Purpurmantel, darunter rote Seidenhosen und auf seiner Kappe wackelte eine purpurrote Feder. Er schritt majestätisch durch die Flure zum Frühstückszimmer. Danach begab er sich in den Thronsaal. Selbstverständlich verlief dies alles unter Einhaltung des strengen höfischen Zeremoniells.

Für die Erledigung der Staatsgeschäfte stand ihm sein Onkel, Lord Hertford, zur Seite. Es ging darum, die Trauerfeierlichkeiten zu planen. Tom hörte schon eine ganze Weile nicht mehr zu, weil er mit seinen Gedanken noch am Beginn des Berichtes war. "Lord Hertford", flüsterte er, "wann soll das Begräbnis stattfinden?"

"Am 16. des nächsten Monats", antwortete Lord Hertford.

Tom erschrak und rief: "Aber das geht doch nicht. Kein Leichnam kann sich so lange halten!"

Armer Tom! Er hatte natürlich keine Ahnung von den Sitten der Vornehmen. Er wusste aus seinen ärmlichen Verhältnissen nur, dass man einen Leichnam so schnell als möglich aus dem Weg räumen musste. Lord Hertford klärte ihn diplomatisch auf.

Später berichtete man dem kleinen König von der Haushaltskasse. Im letzten halben Jahr habe man 28.000 Pfund ausgegeben. Ein Betrag, bei dem Tom fast in Ohnmacht gefallen wäre. Als er hörte, dass davon 20.000 Pfund noch nicht beglichen seien, wurde er ungehalten. Man berichtete ihm, dass die königliche Schatzkammer leer sei und die zwölfhundert Diener immer noch auf ihren letzten Lohn warteten.

"Natürlich müssen wir uns sofort ein kleineres Haus mieten und die Diener entlassen!", rief er ungestüm. "Es ist sowieso lästig mit ihnen, wie sie jeden Handgriff erledigen, als wäre man eine Puppe und nicht klar bei Verstand. Ich kenne da ein kleines Haus am Fischmarkt …"

Lord Hertford unterbrach den kleinen König mit einem Händedruck. Peinlich berührt errötete Tom zutiefst. Doch die Umstehenden taten, als hätte es nie einen solchen Ausbruch gegeben. Da berichteten die Herren weiter von den Wünschen, die der König vor seinem Tod noch geäußert hatte. Mehr als einmal wollte er am liebsten unterbrechen und ausrufen, man möge doch erst einmal des Königs Schulden begleichen, bevor man nicht vorhandenes Geld verteile. Doch Lord Hertford legte ihm mahnend die Hand auf die Schulter. So stimmte Tom letztendlich den Wünschen zu. So sollte Lord Hertford in den Herzogsstand erhoben werden und sein Sohn sollte zum Grafen ernannt werden. Die dazugehörigen Ländereien sollten verteilt werden.

Tom schoss eine geniale Idee durch den Kopf. Was, wenn er seine Mutter zur Herzogin vom Kehrichthof ernennen würde … Aber, er war ja nur auf dem Papier der König von England; eigentlich durfte er nur das tun, was die anderen ihm vorredeten. Die langweilige Regierungsarbeit wollte kein Ende nehmen und Tom fragte sich, was er wohl verbrochen hatte, dass der Liebe Gott ihm derart von Luft und Sonne abhielt. Über diesen Gedanken schlummerte er ein und die Herren unterbrachen ihre Staatsgeschäfte.

Am späten Vormittag bekam Tom Gesellschaft von einem schmächtigen Jungen im Alter von etwa zwölf Jahren. Der Junge reagierte verwirrt, dass der König ihn nicht erkannte. "Ich bin euer Prügelknabe", klärte er Tom auf. "Humphrey Marlow, Euer Gnaden."

Erst wusste Tom gar nicht, wie er reagieren sollte. Wieder eine Situation, auf die er nicht gefasst war. Er beschloss, seine Vergesslichkeit vorzutäuschen und sagte: "Ach, ich denke, ich kann mich entsinnen - doch die Trauer über den Verlust des Königs nagt an mir …"

Mitfühlend blickte der Prügelknabe Tom an und dachte, dass der König nun wirklich verrückt sein müsste. Aber er ließ sich - wie befohlen - nichts anmerken. Tom sagte: "Gib mir einen kleinen Tipp, dann fällt mir bestimmt wieder alles ein. Und nun sprich. Weshalb bist du hier?"

Der Prügelknabe berichtete: "Vor einigen Tagen haben Majestät während des Griechischunterrichts einige Fehler gemacht. Drei, um genau zu sein."

"Ja, mir dämmert da was."

"Euer Lehrer war derart erbost darüber, dass er mir androhte, mich tüchtig durchzuprügeln …"

"Weshalb um Himmels willen erhältst du Prügel für meine Fehler!", rief Tom entsetzt.

"Aber Euer Gnaden, das ist doch meine Arbeit. Immer wenn Ihr euer Studium vernachlässigt und Fehler macht, dann werde ich an Ihrer statt bestraft. Das ist mein Amt bei Hof und ich bekomme Lohn dafür."

Tom dachte, dass dies ein höchst sonderliches Amt sei und fragte, was der Junge denn nun von ihm wolle.

"Euer Gnaden, die Strafe ist für heute angesetzt. Aber vielleicht erlässt man sie, wegen der Trauer um den König. Euer Gnaden haben mir doch versprochen, ein gutes Wort für mich einzulegen."

"Beim Griechischlehrer!", rief Tom aus. Der Junge schien ganz erleichtert, dass sich der junge König nun doch zu erinnern schien. "Aber sicher. Ich werde dafür sorgen, dass du nicht geschlagen wirst."

Doch der Junge schien noch mehr auf dem Herzen zu haben. Nachdem Tom ihn ermutigte, rückte er mit seiner Bitte heraus. "Ich bange um mein Amt. Was, wenn Ihr als König nun keine Studien mehr betreiben wollt. Dann bin ich ruiniert, denn mit meinem Rücken verdiene ich meinen Lebensunterhalt."

Tom beruhigte ihn und versprach ihm, das Amt des Prügelknaben möge ihm und seinen Nachfahren erhalten bleiben, solange England von einem König regiert würde. Zur Bekräftigung berührte er mit der flachen Klinge seines Degens die Schulter des Knaben und sprach: "Humphrey Marlow, hiermit ernenne ich dich zum erblichen Oberprügelknaben des Königs von England. Und glaube mir, wenn ich mein Studium wieder aufnehme, mache ich dreimal so viele Fehler, damit man gerechterweise dein Einkommen erhöhen muss."

Glücklich dankte Humphrey dem König. Tom dagegen war sich bewusst, dass dieser Junge ihm nützlich sein konnte. Er ermunterte ihn zum Sprechen und im Laufe der Unterhaltung führten die vielen nützlichen Informationen dazu, dass Tom stetig auf eine Heilung zuarbeitete. Je mehr Humphrey ihm erzählte, um so mehr Einzelheiten erfuhr Tom und er beschloss, diese Informationsquelle täglich zu nutzen. Humphrey durfte aus diesem Grund jederzeit die Privatgemächer des Königs aufsuchen.

Kaum war Humphrey weg, kam Lord Hertford zum König mit dem Antrag, der König möge doch die nächsten Tage in der Öffentlichkeit speisen. So wollte man den Gerüchten über das eigentümliche Befinden seiner Majestät entgegentreten.

Als Lord Hertford taktvoll mit der Einweisung beginnen wollte, konnte Tom bereits zum ersten Mal Humphreys Informationen gebrauchen. Lord Hertford schien erleichtert und testete das Gedächtnis mit einigen belanglosen Fragen, die Tom ebenfalls dank seines Prügelknaben beantworten konnte. "Ich sehe mich erleichtert, ob Eures guten Gedächtnisses, Majestät", sagte Lord Hertford. "Vielleicht fällt Euer Gnaden nun doch noch ein, wo das Große Siegel verblieben ist", fragte er hoffnungsvoll.

Doch damit konnte Tom nicht dienen, was den Grafen natürlich enttäuschte. Schnell lenkte er Toms Gedanken von dem Siegel ab. Er wollte den König nicht überfordern.