Der Zweite Staatsanwalt

  • Autor: Dumas, Alexander

In der Rue du Grand-Cours feierte man zur selben Stunde ebenfalls eine Verlobung. Der junge, ehrgeizige Beamte Herr von Villefort, wollte die vornehme Renée Saint-Meran heiraten. Diese Hochzeit geschah nicht nur aus Liebe. Er versuchte sich dadurch von einem geerbten Makel zu befreien. Sein Vater war nämlich Girondist gewesen. Die Girondisten waren eine Vereinigung, die zu Beginn der Französischen Revolution für den Sturz des damaligen Königs Ludwig den XVI. gesorgt hatten. Durch die Französische Revolution wurde Frankreich von der Monarchie zur Republik. Erst mit Napoleon setzte sich wieder ein Monarch an die Spitze. Unter dem jetzigen König Ludwig XVIII. konnte dieses Erbe Herrn von Villefort schaden.

Ein Kammerdiener trat ein, und flüstere dem Staatsanwalt einige Worte ins Ohr. Herr von Villefort lächelte seine Verlobte entschuldigend an und stand auf. Renée schaute ihn liebevoll an. Mit seinen blauen Augen und seinem schwarzen Backenbart, war er ein gut aussehender junger Mann. "Was ist der Anlass für die Störung?", fragte das Mädchen.

"Hier ist ein anonyme Anzeige", Villefort las den Brief den Danglars geschrieben hatte vor.

"Aber dieser Brief ist doch an den Ersten Staatsanwalt adressiert und nicht an Sie", bemerkte die schöne Renée.

"Ja, aber der Erste Staatsanwalt ist nicht hier. In seiner Abwesenheit gelangte das Schreiben zu mir. Zu meinem Bedauern, muss ich mich um den Beklagten kümmern."

"Oh, Herr von Villefort", sagte Renée, "seien sie nachsichtig. Schließlich ist heute unser Verlobungstag."

Als Herr von Villefort den Raum verließ, warf er seiner Braut noch einem Blick zu, der sagte: "Seid unbesorgt, um eurer Liebe willen, werde ich nachsichtig sein."

Der Raum im Justizpalast war kahl und ließ einen trotz des Feuers im Kamin frösteln. Herr von Villefort setzte sich an seinen Schreibtisch und begann mit dem Verhör: "Wer sind Sie und wie heißen Sie?"

Edmond Dantes antwortete wahrheitsgemäß.

"Was taten Sie in dem Augenblick, als sie verhaftet wurden?"

"Ich feierte gerade meine Verlobung, mein Herr."

"Sie feierten Ihre Verlobung?", die Stimme des Zweiten Staatsanwaltes begann unwillkürlich zu zittern. Je weiter das Verhör fortfuhr, desto größere Sympathie hegte Herr von Villefort für den jungen Mann. Er betrachtete Dantes sanftes und offenes Gesicht und erinnerte sich an die Bitte Renées. Er kam zu dem Schluss, dass es ihm leicht fallen würde, sich bei seiner Verlobten beliebt zu machen.

"Ist Ihnen bekannt, dass Sie Feinde haben? Dieser Brief gelangte heute in meinen Besitz. Erkennen Sie die Handschrift?"

Edmond schaute und las: "Nein, ich kenne diese Handschrift nicht. Sie ist verstellt. Ich bin sehr froh, dass ich es mit einem ehrenwerten Herrn, wie Sie sind, zu tun habe. Hören Sie nun die reine Wahrheit." Edmond erzählte vom Tod des Kapitäns und dessen Auftrag, die Insel Elba anzufahren. Von seiner Rückkehr und der Verlobungsfeier mit Mercedes.

"Ich glaube Ihnen", erwiderte Villefort, "alles erscheint mir der Wahrheit zu entsprechen. Geben Sie mir den Brief und versprechen Sie mir, sich bei einer Vorladung sofort zu stellen, dann können Sie zu Ihren Freunden zurückkehren."

"Ich bin also frei?", rief Dantes voller Freude.

"Ja, nur geben Sie mir den Brief."

"Er muss bereits vor Ihnen liegen, mein Herr, denn man hat ihn mir mit meinen anderen Papieren abgenommen."

"Warten Sie, an wen war der Brief adressiert?"

"An Herrn Noirtier, in Paris", antwortete Dantes unbekümmert.

Ein greller Blitz durchzuckte Herrn von Villefort. Vollkommen bleich murmelte er die Adresse vor sich hin.

"Kennen Sie diesen Herrn?", fragte Dantes.

"Nein", stieß Villefort hervor, "ein treuer Diener des Königs kennt keine Verschwörer.

"Es handelt sich also um eine Verschwörung?" Dantes wurde von großer Furcht ergriffen. "Ich versichere Ihnen, ich wusste nichts über diese Depesche."

"Sie haben diesen Brief niemand gezeigt?", fragte Villefort, während er las und immer bleicher wurde.

"Nein, niemand!"

Oh, mein Gott, dachte der Staatsanwalt. Wenn diesem jungen Mann jemals bekannt wird, dass Herr Noirtier mein Vater ist, kein anderer als mein eigener Vater, und wenn er erfährt, was der Brief enthält, so bin ich verloren.

Villefort schnellte empor und warf das Blatt in das Feuer des Kamins. Gierig verzehrten es die Flammen. Als auch der kleinste Rest zu Asche geworden war, wandte er sich an Edmond Dantes: "Es geschah zu Ihrem Schutz. In Ihrem eigenen Interesse behalte ich Sie heute im Justizpalast. Morgen sind Sie frei, wenn Sie mir schwören, dass dies der einzige Brief war, den sie empfangen haben!"

Edmond streckte die Hand aus und sagte: "Ich schwöre."

Villefort läutete und ein Polizeibeamter trat ein, dem er einige Worte ins Ohr flüsterte. "Folgen Sie dem Herrn", sprach er zu Dantes.

Dieser verbeugte sich, warf einen dankbaren Blick auf Villefort und ging.

Kaum war die Tür geschlossen, fiel Villefort beinahe ohnmächtig auf seinen Stuhl. Dann murmelte er: "Herr im Himmel, ich danke dir! Wäre der Staatsanwalt nicht verreist gewesen und wäre dieser Brief in seine Hände gelangt, dann wäre es um mich und meinen Vater geschehen gewesen. So könnte sich alles noch zu meinem Glück wenden!" Dann erhob er sich und ging zum Haus seiner Braut zurück.