Die wilden Schwäne

  • Autor: Andersen, Hans Christian

[von Hans Christian Andersen]

Dort, wo die Schwalben im Winter hinziehen, wohnte einst ein König, der elf Söhne und eine Tochter mit dem Namen Elisa hatte. Die elf Brüder waren Prinzen und gingen mit dem Stern auf der Brust und dem Säbel an der Seite in die Schule. Sie schrieben mit Diamantgriffeln auf Goldtafeln und lernten ebenso gut auswendig, wie sie lasen. Man konnte gleich hören, dass sie echte Prinzen waren. Die Schwester Elisa aber saß auf einem kleinen Schemel aus Spiegelglas und hatte ein Bilderbuch, das mit dem halben Königreich erkauft war. Oh, die Kinder hatten es so gut, aber es sollte nicht immer so bleiben.

Der König verheiratete sich mit einer bösen Königin, die den armen Kindern gar nicht wohl gesonnen war. Schon bald brachte man Elisa zu einem Bauernpaar aufs Land. Und es währte nicht lange, da redete die Königin so viel schlechtes über die Prinzen, dass der König sich gar nicht mehr um sie kümmern wollte.

"Fliegt hinaus in die Welt und ernährt euch selbst!", rief die böse Königin. "Fliegt wie die großen Vögel ohne Stimme!" Aber sie konnte es doch nicht so weit bringen, denn die elf Prinzen verwandelten sich in herrliche wilde Schwäne. Mit einem sonderbaren Schrei flogen sie aus den Schlossfenstern hinaus und zogen über den Park und den Wald dahin.

Es war noch ganz früh am Morgen, als sie dort vorbeikamen, wo die kleine Schwester Elisa nun lebte. Sie stand in der Stube des Bauern und spielte mit einem grünen Blatt, denn anderes Spielzeug gab es nicht. Sie stach ein Loch in das Blatt, sah hinaus in den Himmel. Es war ihr, als sähe sie die Augen ihre Brüder.

Als Elisa fünfzehn Jahre alt geworden war, sollte sie wieder nach Hause. Die Königin erkannte sogleich, wie schön ihre Stieftochter nun war, und hasste sie aus ganzem Herzen. Gern hätte sie Elisa in einen wilden Schwan verwandelt, aber das wagte sie nicht, weil der König seine Tochter sehen wollte.

Am frühen Morgen ging die Königin in das große Bad, das aus Marmor erbaut und mit weichen Kissen und prächtigen Decken geschmückt war. Sie nahm drei Kröten, küsste sie und sagte zu der einen: "Setze dich auf Elisas Kopf, wenn sie in das Bad kommt, damit sie dumm wird, wie du selbst!" Der zweiten Kröte sagte sie: "Setze dich auf ihre Stirn, damit sie hässlich wird, sodass ihr Vater sie nicht erkennt!" Der dritten Kröte flüsterte sie zu: "Ruhe an ihrem Herzen und gib ihr einen bösen Sinn, dass sie Schmerzen davon hat!"

Die Königin setzte die Kröten in das klare Wasser, und es nahm sogleich eine grüne Farbe an. Dann rief sie Elisa, zog sie aus und ließ sie in das Wasser hinabsteigen. Kaum war Elisa untergetaucht, setzte sich die eine Kröte in ihr Haar, die andere auf ihre Stirn und die dritte auf ihre Brust. Elisa schien es aber gar nicht zu bemerken. Sobald sie sich aufrichtete, schwammen drei rote Mohnblumen auf dem Wasser.

Die böse Königin sah es, und rieb Elisa jetzt mit Walnusssaft ein, worauf sie ganz schwarzbraun wurde. Dann bestrich die Königin ihr hübsches Antlitz mit einer stinkenden Salbe und zerzauste das herrliche Haar. Es war unmöglich, die schöne Elisa wiederzuerkennen.

Als der Vater Elisa so sah, erschrak er und sagte: "Das ist nicht meine Tochter!" Da weinte die arme Elisa bitterlich, machte sich aus dem Schloss davon und ging den ganzen Tag über Feld und Moor, bis in den großen Wald hinein. Sie wusste nicht, wohin sie jetzt noch gehen konnte, aber sie sehnte sich nach ihren Brüdern. Müde schlief sie ein und träumte, wie sie als Kind mit ihren Brüdern spielte. Sie schrieben mit dem Diamantgriffel auf die Goldtafel und betrachteten zusammen das herrliche Bilderbuch.

Als sie erwachte, stand die Sonne schon hoch am Himmel. Die Hirsche hatten gar nicht weit weg eine große Lichtung gemacht, und hier ging Elisa zum Wasser. Sie erblickte ihr eigenes Gesicht und erschrak, so braun und hässlich war es. Doch als sie ihre kleine Hand mit Wasser benetzte und die Augen und Stirne damit rieb, glänzte die weiße Haut so schön wie zuvor. Da entkleidete sich Elisa und ging in das frische Wasser hinein.

Als sie sich wieder angekleidet und ihr langes Haar geflochten hatte, ging sie noch zur sprudelnden Quelle. Dort trank sie aus der hohlen Hand und wanderte dann tief in den Wald hinein, ohne zu wissen, wohin. Sie dachte an ihre Brüder und an den lieben Gott, der sie sicher behüten würde.

Die Nacht wurde sehr dunkel. Nicht ein einziger Johanniswurm leuchtete aus dem Moos. Betrübt legte sich Elisa nieder, um zu schlafen. Am nächsten Morgen ging sie weiter und begegnete schon bald einer alten Frau, die Beeren in ihrem Korb hatte. Die Alte gab ihr einige davon. Elisa fragte auch, ob sie nicht elf Prinzen durch den Wald habe reiten sehen.

"Nein", sagte die Alte, "aber gestern sah ich elf Schwäne mit Goldkronen auf dem Haupt, die den Fluss hinabschwammen!" Die Alte führte Elisa ein Stück weit durch den Wald zu einem Abhang, unter dem der Fluss sich schlängelte. Elisa sagte der Alten Lebewohl und ging bis zu der Stelle, wo der Fluss ins große, offene Meer mündete.

Das ganze herrliche Meer lag vor dem jungen Mädchen, aber nicht ein einziges Segel und kein Boot war zu sehen. Wie sollte sie nur weiter kommen? - Elisa betrachtete die unzähligen Steinchen am Ufer. Das Wasser hatte sie alle rund geschliffen. Glas, Eisen, Holzstückchen lagen da und dort zusammengespült, und alles hatte seine Form durch das Wasser bekommen. "Das Wasser rollt unermüdlich heran", dachte Elisa, "und es glättet die härtesten Dinge. Ich will ebenso unermüdlich sein und meine Brüder finden. Dank für eure Lehre, ihr klaren, rollenden Wogen."

Elisa blieb noch eine ganze Weile am dem einsamen Meeresstrand, denn das Meer war so schön anzusehen. Als die Sonne unterging, sah sie aber elf wilde Schwäne mit Goldkronen auf dem Kopf heranziehen. Da stieg Elisa geschwind den Strand hinauf und verbarg sich hinter einem Busch. Die Schwäne ließen sich in der Nähe bei ihr nieder und schlugen mit ihren großen, weißen Schwingen.

Sobald die Sonne hinter dem Wasser war, fielen plötzlich die Schwanengefieder herab, und elf schöne Prinzen standen da. Elisa stieß einen lauten Schrei aus, denn sie erkannte sofort, dass es ihre Brüder waren. Sie lief ihnen mit offenen Armen entgegen und rief ihre Namen. Die Prinzen waren sehr glücklich, als sie ihre kleine Schwester sahen, und sie erkannten jetzt, wie böse die Stiefmutter mit ihnen umgegangen war.

"Wir Brüder", sagte der älteste, "fliegen als wilde Schwäne, solange die Sonne am Himmel steht. Wenn sie untergegangen ist, erhalten wir unsere menschliche Gestalt zurück. Deshalb müssen wir immer darauf achten, dass wir bei Sonnenuntergang eine Ruhestätte für die Füße haben. Würden wir zu dieser Zeit in den Wolken fliegen, müssten wir als Menschen in die Tiefe stürzen.

Höre Schwester, es liegt ein schönes Land jenseits der See, aber der Weg ist weit. Wir müssen über das große Meer, und es findet sich keine Insel auf unserem Wege. Nur eine einsame, kleine Klippe ragt in der Mitte hervor. Sie ist gerade so groß, dass wir dicht nebeneinander ruhen können. Dort übernachten wir in unserer Menschengestalt. Ohne die Klippe könnten wir nie unser liebes Vaterland besuchen, denn wir brauchen zwei lange Tage für den Flug. Es ist uns aber nur einmal im Jahr vergönnt, unsere Heimat zu besuchen. Zwei Tage können wir bleiben, dann müssen wir wieder fort über das Meer. - Wie können wir dich mitnehmen? Wir haben weder Schiff noch Boot!" "Kann ich euch denn nicht erlösen?", fragte die Schwester. Und sie redeten bis in die späte Nacht.

Am nächsten Morgen erwachte Elisa von dem Rauschen der Schwanenflügel, denn ihre Brüder waren wieder verwandelt. Sie flogen in großen Kreisen und zuletzt weit weg, aber der jüngste blieb bei Elisa zurück. Er legte seinen Kopf in ihren Schoß, und sie streichelte seine Flügel. Gegen Abend kehrten die anderen heim, und als die Sonne unterging, hatten sie wieder ihre natürliche Gestalt.

"Morgen fliegen wir fort von hier und können vor Ablauf eines ganzen Jahres nicht zurückkehren", sagte der älteste Bruder. "Aber wir können dich nicht so verlassen! Hast du Mut, mitzukommen? Mein Arm ist stark genug, um dich durch den Wald zu tragen. Sollten wir da nicht alle so starke Flügel haben, um mit dir über das Meer zu fliegen?" "Ja, nehmt mich mit!", rief Elisa.

Fast die ganze Nacht brachten sie damit zu, aus geschmeidiger Weidenrinde ein Netz zu flechten. Es wurde groß und fest. Auf dieses Netz legte sich Elisa zum Schlafen. Als dann die Sonne hervortrat und die Brüder sich in wilde Schwäne verwandelten, ergriffen sie mit ihren Schnäbeln das Netz und flogen hoch in die Wolken.

Sie waren schon weit vom Lande entfernt, als Elisa erwachte. Sie glaubte noch zu träumen, so sonderbar kam es ihr vor, über das Meer getragen zu werden. Doch es zog ein böses Wetter auf. Ängstlich sah Elisa die Sonne sinken, aber die einsame Klippe im Meer war noch nicht zu erblicken. Die schwarzen Wolken kam immer näher, und die starken Windstöße verkündeten einen wütenden Sturm.

Jetzt war die Sonne gerade am Rande des Meeres. Da schossen die Schwäne hinab, so schnell, dass Elisa zu fallen glaubte. Ihr Herz bebte, aber dann schwebten sie dicht über dem Meer dahin. Die Sonne war nun schon halb unter dem Wasser, da erblickte sie die kleine Klippe unter sich. Die Sonne sank immer schneller, da berührte ihr Fuß endlich den festen Grund! Kaum war die Sonne aber erloschen, da standen die Brüder Arm in Arm um sie herum.

Die See schlug gegen die Klippe und ging wie Staubregen über sie hin. Der Himmel leuchtete in einem fortwährenden Feuer, und Schlag auf Schlag rollte der Donner. Erst in der Morgendämmerung war die Luft wieder rein und still. Und als die ersten Sonnenstrahlen den Himmel erleuchteten, flogen die Schwäne mit Elisa wieder von der Insel fort.

Die Sonne stieg höher, und Elisa sah vor sich ein Bergland mit glänzenden Eismassen auf den Felsen. Sie fragte, ob es das Land sei, wo sie hin wollten. Die Schwäne schüttelten die Köpfe, denn das, was sie sahen, war nur eine Fata Morgana. Dann sah sie das wirkliche Land, zu dem sie wollten. Dort erhoben sich herrliche blaue Berge mit Zedernwäldern, Städten und Schlössern. Lange bevor die Sonne unterging, saß Elisa sicher auf dem Felsen vor einer großen Höhle, die mit feinen grünen Schlingpflanzen bewachsen war. Es sah fast so aus, als seien es gestickte Teppiche.

"Nun wollen wir sehen, was du diese Nacht hier träumst", sprach der jüngste Bruder und zeigte ihr die Schlafkammer. "Gebe der Himmel, dass ich träumen möge, wie ich euch erretten kann", sagte Elisa. Sie betete zu Gott, bat um seine Hilfe und schlief ein. Da kam es ihr so vor, als ob sie sich hoch in die Luft zu einem Wolkenschloss erheben würde. Eine Fee kam ihr entgegen, die das Antlitz der alten Frau hatte, die ihr im Walde Beeren gegeben und von den Schwänen mit Goldkronen erzählt hatte.

"Deine Brüder können erlöst werden", sprach die Fee, "aber hast du Mut und Ausdauer? Siehe die Brennnessel, die ich in meiner Hand halte! Von dieser Art wachsen viele rings um die Höhle. Nur diese, sowie die vom Friedhof, sind tauglich. Merke dir das! Du musst sie pflücken, obgleich sie deine Hand voll Blasen brennen werden. Brich die Nesseln mit deinen Füßen, so erhältst du einen Flachs zum Spinnen. Daraus musst du elf Panzerhemden mit langen Ärmeln flechten. Wirf sie über die elf Schwäne, so ist der Zauber gelöst. Aber bedenke wohl, dass du von dem Augenblick an, wo du diese Arbeit beginnst, nicht mehr sprechen darfst. Das erste Wort, welches du sprichst, geht als tötender Dolch in das Herz deiner Brüder! An deiner Zunge hängt ihr Leben. Merke dir das alles!" Die Fee berührte zugleich die Hand von Elisa mit der Nessel. Es war einem brennenden Feuer gleich, und sie erwachte.

Ein heller Tag kündigte sich an und dicht neben Elisa lag eine Nessel, wie die im Traum. Da fiel sie auf ihre Knie, dankte dem lieben Gott und ging aus der Höhle hinaus, um ihre Arbeit zu beginnen. Mit ihren feinen Händen griff sie hinunter in die hässlichen Nesseln, die wie Feuer brannten. Große Blasen zeigten sich an ihren Händen und Armen. Elisa wollte es aber erdulden, konnte sie doch die lieben Brüder befreien. Stück für Stück brach sie jede Nessel mit ihren bloßen Füßen und flocht den grünen Flachs.

Als die Sonne untergegangen war, kamen die Brüder und erschraken, weil Elisa kein Wort sagte. Sie glaubten, es sei ein neuer Zauber der bösen Stiefmutter. Aber als sie ihre Hände erblickten, begriffen sie, was sie da tat. Der jüngste Bruder weinte in ihren Armen, und wohin seine Tränen auch fielen, fühlte sie keine Schmerzen, und die brennenden Blasen verschwanden.

Am nächsten Tag ertönte ein Jagdhorn zwischen den Bergen. Elisa wurde von Furcht ergriffen, denn der Ton kam immer näher, und sie hörte Hunde bellen. Erschrocken floh sie in die Höhle, band die Nesseln, die sie gesammelt und gebrochen hatte und setzte sich drauf. Sogleich kam ein großer Hund aus der Schlucht gesprungen, und gleich darauf wieder einer und noch einer. Sie bellten laut, liefen zurück und kamen wieder vor. Es dauerte auch nicht lange, da standen die Jäger vor der Höhle. Der schönste unter ihnen war der König des Landes. Er ging auf Elisa zu, denn nie zuvor hatte er ein schöneres Mädchen gesehen.

"Wie bist du hierher gekommen, du herrliches Kind?", fragte er. Elisa schüttelte den Kopf, denn sie durfte ja nicht sprechen. Und sie verbarg auch ihre Hände unter der Schürze, damit der König nicht sah, was sie erleiden musste.

"Kommt mit mir", sagte der König, "hier solltest du nicht bleiben. Bist du so gut, wie ich glaube, so will ich dich in Seide und Samt kleiden. Ich werde dir eine Goldkrone auf das Haupt setzen, und du sollst in meinem schönsten Schlosse wohnen!" Dann hob er sie auf sein Pferd. Sie weinte und hob flehend die Hände, aber der König sagte: "Ich will nur dein Glück! Einst wirst du mir dafür danken". Dann jagte er fort durch die Berge und hielt sie vorne auf dem Pferd.

Der König führte Elisa in sein Schloss, wo große Springbrunnen in den hohen Marmorsälen plätscherten und wo die Wände und Decken mit Gemälden prangten. Aber sie hatte keine Augen dafür und weinte. Willig ließ sie sich von den Frauen königliche Kleider anlegen, Perlen in ihre Haar flechten und feine Handschuhe über die verbrannten Finger ziehen. Sie war so blendend schön, dass der Hof sich noch tiefer verneigte.

Der König wählte sie nun vor aller Augen zu seiner Braut, obgleich der Erzbischof mit dem Kopf schüttelte. Der König übersah es einfach, ließ die köstlichsten Gerichte auftragen und die Musik zum Tanze aufspielen. Dann wurde Elisa durch duftende Gärten in prächtige Säle geführt, aber nicht ein einziges Lächeln zeigte sich auf ihren Lippen. Wie ein Bild der Trauer stand sie da.

Jetzt öffnete der König eine kleine Kammer dicht neben dem Gemach, wo Elisa schlafen sollte. Die Kammer war mit grünen Teppichen geschmückt und glich ganz der Höhle, in der sie zuletzt gewesen war. Auf dem Fußboden lag das Bund Flachs, welches sie aus den Nesseln gesponnen hatte, und unter der Decke hing das Panzerhemd, welches schon fertig gestrickt war. Das alles hatte ein Jäger mitgenommen, weil es so ungewöhnlich war.

"Hier kannst du dich in deine frühere Heimat zurückträumen", sagte der König. "Hier ist auch die Arbeit, die dich so arg beschäftigt hat. - Hier, in all dieser Pracht, wird es dich vielleicht erfreuen, an die alten Zeiten zu denken." Als Elisa das sah, spielte ein Lächeln um ihren Mund, und das Blut kehrte in ihre Wangen zurück. Sie hoffte wieder, ihre Brüder erlösen zu können.

Nun sollte aber auch die Hochzeit sein. Der Erzbischof selbst musste Elisa die Krone auf das Haupt setzen, und er drückte den engen Ring so fest auf ihre Stirn, dass es schmerzte. Doch ihr Mund blieb stumm. Ein einziges Wort hätte ja den Brüdern das Leben gekostet.

In der Nacht schlich sich Elisa von der Seite des Königs, ging in die kleine Kammer und strickte ein Panzerhemd nach dem anderen fertig. Aber als sie das siebente begann, hatte sie keinen Flachs mehr. Nun wuchsen auf dem Friedhof die brennenden Nesseln, die sie brauchen konnte. Nur wie sollte sie dorthin gelangen? - "Ich muss es wagen", dachte sie. "Der liebe Gott wird seine Hand über mich halten!" Also schlich sie sich in der mondheller Nacht in den Garten hinunter und ging durch die einsamen Straßen zum Friedhof hinaus.

Dort sah sie auf einem der breitesten Grabsteine Lamien im Kreise sitzen. Diese hässlichen Hexen nahmen ihre Lumpen ab, als ob sie sich baden wollten. Dann gruben sie mit den langen, mageren Fingern frische Gräber auf, holten Leichen heraus und aßen von ihrem Fleisch. Elisa musste nahe an ihnen vorbei, und die Hexen hefteten ihre bösen Blicke auf sie. Elisa betete aber still vor sich hin, sammelte die brennenden Nesseln und trug sie zu dem Schlosse. Nur ein einziger Mensch hatte sie dabei gesehen: der Erzbischof. Er war immer noch munter, wenn alle anderen schon schliefen.

Der Erzbischof sagte dem König im Beichtstuhl, was er gesehen hatte und was er fürchtete. Da rollten zwei schwere Tränen über die Wangen des Königs. Er ging mit Zweifel im Herzen nach Hause und tat so, als ob er in der Nacht fest schliefe. So merkte er es, wenn Elisa aufstand. Jede Nacht wiederholte sich das, und jedes Mal folgte der König ihr und sah, wie sie in ihrer Kammer verschwand. Tag für Tag wurde seine Miene finsterer. Elisa sah es, wusste aber nicht, weshalb.

Inzwischen war sie mit ihrer Arbeit bald fertig. Es fehlte nur noch ein einziges Panzerhemd. Aber Flachs hatte sie auch nicht mehr, nicht eine einzige Nessel. Deshalb musste sie ein letztes Mal zum Friedhof gehen und einige Hand voll pflücken. Elisa tat es in der Nacht, doch der König und der Erzbischof folgten ihr. Sie sahen sie an der Gitterpforte zum Friedhof verschwinden, und als sie sich näherten, saßen die Lamien wieder auf dem Grabstein. Der König wendete sich ab, denn er dachte, unter ihnen wäre auch Elisa. "Das Volk muss sie verurteilen", sagte er leise zum Erzbischof. Und das Volk verurteilte sie wirklich, in lodernden Flammen verbrannt zu werden.

Aus den prächtigen Königssälen wurde Elisa in ein dunkles, feuchtes Loch geführt, wo der Wind durch das Gitter pfiff. Statt Samt und Seide gab man ihr das Bund Nesseln, welches sie gesammelt hatte. Darauf sollte sie ihr Haupt betten. Die harten Panzerhemden gab man ihr statt warmer Decken.

Da schwirrte gegen Abend dicht am Gitter ein Schwanenflügel vorbei. Es war der jüngste der Brüder. Er hatte die Schwester lange gesucht und endlich gefunden. Und nun war auch die Arbeit an dem letzten Panzerhemd fast beendet, jetzt, wo ihre Brüder doch so nahe waren.

Am Abend kam der Erzbischof zu Elisa, um in der letzten Stunde bei ihr zu sein. Das hatte er dem König versprochen. Sie schüttelte aber nur das Haupt und bat ihn mit Blicken, er möge doch gehen. In dieser Nacht musste sie ja ihre Arbeit vollenden, sonst wären die Brüder verloren gewesen. Der Erzbischof entfernte sich schließlich mit bösen Worten, worauf Elisa gleich wieder ihre Arbeit aufnahm.

Es wurde Tag und das ganze Volk strömte aus dem Stadttor, denn es wollte die Hexe brennen sehen. Ein alter Gaul zog den Karren, auf dem Elisa saß. Man hatte ihr einen Kittel aus grobem Sackleinen angezogen. Ihr herrliches Haar hing aufgelöst herunter und ihre Wangen waren totenbleich. Leise bewegten sich ihre Lippen, während die Finger noch den grünen Flachs zurichteten. Selbst auf dem Weg zu ihrem Tode unterbrach sie die angefangene Arbeit nicht. Die zehn Panzerhemden lagen zu ihren Füßen, und das elfte war beinahe fertig. Der Pöbel aber verhöhnte sie.

"Seht nur die rote Hexe, wie sie murmelt!", riefen die Leute und wollten die Panzerhemden in tausend Stücke zerreißen. Doch plötzlich kamen elf wilde Schwäne geflogen. Sie setzten sich rings um Elisa auf den Karren und schlugen mit ihren großen Schwingen. Nun wichen die Leute erschrocken zur Seite, und einige flüsterten: "Das ist ein Zeichen des Himmels! Sicher ist sie unschuldig!" Aber sie wagten nicht, es laut zu sagen.

Schon wollte der Henker Elisa ergreifen, da warf sie hastig die Panzerhemden über die Schwäne. Und siehe, sogleich standen elf schöne Prinzen da! Nur der jüngste hatte einen Schwanenflügel statt des einen Armes, denn es fehlte noch ein Ärmel an seinem Panzerhemd. "Jetzt darf ich sprechen!", rief Elisa laut. "Ich bin unschuldig!"

Das Volk sah, was geschehen war, und verneigte sich wie vor einer Heiligen. "Ja, unschuldig ist sie", sagte auch der älteste Bruder, und erzählte dem Volke die ganze Geschichte. Und während er noch sprach, strömte ein Duft wie von Millionen Rosen durch die Lüfte, denn jedes Stück Brennholz im Scheiterhaufen hatte Wurzeln geschlagen und trieb Zweige. Eine duftende Hecke mit roten Rosen wuchs empor, und ganz oben saß eine Blume, weiß und glänzend, so hell wie ein Stern. Die pflückte der König und gab sie Elisa in die Hand. Da läuteten alle Kirchenglocken wie von selbst, und die Vögel kamen in großen Scharen. Es wurde ein Hochzeitszug, wie ihn noch kein König gesehen hatte!