Die Wassernixe

Die Wassernixe

Es war einmal ein Mann, der konnte seine Armut nicht mehr ertragen und starb vor lauter Gram. Er hinterließ ein Frau und zwei kleinen Mädchen mit nur wenigen Habseligkeiten. Darum musste die Frau ihre Kinder zu einem fremden Bauern geben.

Der Bauer schickte die beiden Mädchen zum Kühe hüten auf die Weiden. Es war sehr trocken, und die Gräser verdorrten in der prallen Sonne. Die Kühe sahen jeden Tag magerer aus, und dafür prügelte der Bauer die Mädchen. So ging das Tag für Tag, und die Mädchen zählten schon nicht mehr ihre blauen Flecken. Da befahl der Bauer, die dürren Kühe an den Nixenteich zu treiben, weil dort noch Grünes am Ufer stand. Die Mädchen erschraken sehr, denn im Dorf erzählte man sich, das im Teich eine Wassernixe auf Menschen lauere. Niemand wollte dort seine Kühe hüten. Die Mädchen hatten aber keine Wahl, denn der Bauer drohte mit noch mehr Prügeln.

So gingen die Mädchen mit den Kühen zum Teich und schauten gebannt ins Wasser. Als nichts geschah, rief das eine Mädchen: "Ach, das Leben ist so schwer. Ich wünschte, die Nixe würde uns ins Wasser ziehen. Dann hätten wir endlich Ruh."

§32

Kinder dürfen nicht zu Arbeit gezwungen werden!
Kinder dürfen nicht ausgebeutet und ausgenutzt werden. In vielen armen Ländern kommt es immer wieder vor, dass Kinder den ganzen Tag schwer arbeiten müssen. Sie müssen Geld verdienen, damit ihre Familien überleben können. Diese Kinder haben keine Zeit zum Spielen und zum Lernen. Es ist wirklich eine Schande, wenn sich Leute an billiger Arbeit von Kindern bereichern!

"Komm, Schwesterlein" sprach die andere, "lass uns gemeinsam die Nixe rufen." Sie riefen: "Wassernixe, Wassernixe, zieh uns rein!" Da brauste das Wasser sprudelnd auf. Sie hörten eine singende Stimme, und eine schöne Frau stieg empor. Die Nixe hielt ein grünes Zweiglein in der Hand und fragte: " Was führt euch an diesen Ort?" "Wir müssen die Kühe füttern," erwiderten die Mädchen, "sonst schlägt uns der Bauer am Ende noch tot." Die Nixe winkte mit dem Zweiglein und sprach: "Kommt mit mir! Ich will euch eine saftige Weide zeigen, wie ihr sie noch nie gesehen habt."

Die Nixe berührte mit dem Zweiglein das Wasser im Teich, und es teilte sich auseinander. Ein grüner Viehweg trat hervor, an dessen Ende eine wunderschöne Weide lockte. Jetzt gab es kein Halten mehr. Die Kühe beeilten sich auf den Weg zu gelangen und die Mädchen liefen fröhlich hinterher. Kaum standen die Kühe im saftigen Gras, da fingen sie auch schon an zu grasen. Es war so viel da, dass die Mädchen sich gar nicht mehr um die Kühe kümmern mussten.

Die Nixe brachte die Mädchen in ihr Haus und reichte ihnen ein gar festliches Mahl. Dann kamen vornehme Damen herein und bedienten die Mädchen von vorne bis hinten. Sie gaben ihnen wohl riechende Seife zum Bade und kämmten ihnen die Haare. Das ließen sich die Mädchen gerne gefallen und blieben viele Stunden.

Als es aber Zeit war, die Kühe einzutreiben, gab die Nixe ihnen das grüne Zweiglein und sprach: "Wenn ihr mit diesem Zweiglein auf den Viehweg schlagt, dann seid ihr wieder am Ufer des Teiches. Das Zweiglein müsst ihr aber gut verwahren, und es darf auch nicht vertrocknen. Denn jedes Mal, wenn ihr zu mir wollt, wird das grüne Zweiglein euch die Rückkehr ermöglichen. Wenn das Zweiglein aber doch verdorrt, dann müsst ihr für jede Rückkehr mit ein Stückchen von eurem Körper bezahlen. Das könnt ihr aber leicht verschmerzen, und ihr bekommt dafür auch Golddukaten."

Die Mädchen schlugen mit dem Zweiglein auf den Viehweg und waren sogleich am Ufer des Teiches. Dann trieben sie die gesättigten Kühe zum Hof zurück, wo der Bauer mächtig staunte. So viel Milch hatten die Kühe schon lange nicht mehr gegeben, und die Bäuerin lobte sogar die Mädchen. Als diese aber das grüne Zweiglein vorsichtig in einen Wassertopf setzten, da wurde der Bauer misstrauisch. Den ganzen Abend fragte er die Mädchen aus, bis sie endlich alles sagten.

Die Mädchen legten sich nun todmüde zum Schlafen. Da nahm der Bauer das grüne Zweiglein aus dem Topf und ließ es auf dem warmen Ofen verdorren. Am nächsten Morgen stand der Bauer gleich als Erster auf und stellte das armselige Zweiglein wieder in den Topf. So wollte er an die goldenen Dukaten gelangen, von den die Mädchen gesprochen hatten.

Der Schreck war groß, als die Mädchen das verwelkte Zweiglein sahen. Jetzt konnte die Nixe ein Stück von ihrem Körper verlangen. Sie weinten bitterlich, aber der Bauer versetzte ihnen eine gesalzene Tracht Prügel.

Die Mädchen gingen mit den Kühen also wieder zum Teich und riefen: "Wassernixe, Wassernixe, zieh uns rein!" Und es geschah alles, wie am Tag zuvor. Als sie nun wieder fort wollten, ging es nicht, denn das Zweiglein war ja verdorrt. Das sagten sie der Nixe und sie sprach: "Jede von euch muss mir ein Stück vom kleinen Finger geben. Das ist der Preis für eure Rückkehr. Wenn ihr mir das verweigert, werde ich euch zu Damen machen, wie ihr sie hier im Hause gesehen habt. "Nein", riefen die Mädchen, "dann doch lieber ein Fingerglied weniger!" Da kam die Nixe mit einer Schere und schnitt jedem Mädchen das oberste Glied vom kleinen Finger ab. Die beiden Finger bluteten ein wenig, und jeder Tropfen verwandelte sich auf der Erde in einen Golddukaten. Die kleinen Wunden heilten aber in Windeseile, doch die Finger waren jetzt ein bisschen kürzer.

"Nehmt die Dukaten", sprach die Nixe, "und haltet sie schön beisammen. Mit ihrer Hilfe könnt ihr später einmal eure Fingerglieder zurückerhalten. Es darf aber kein Einziger fehlen, und ihr dürft sie auch nicht gegen andere Dukaten tauschen. Wenn ihr gegen diese Regeln verstoßt, dann fangen die abgeschnittenen Finger unaufhörlich an zu bluten. Und aus jedem Tropfen Blut wird ein Eimer voller Wasser. Dieses Wasser läuft dann zusammen und bildet einen riesigen Wirbel, der alles mit sich zieht."

Die Mädchen versprachen sich in Acht zu nehmen und bekamen wieder ein grünes Zweiglein. Das schlugen sie auf den Viehweg und standen am Ufer des Teiches. Der Bauer wartete schon ungeduldig, als die Mädchen mit den gesättigten Kühen nach Hause kamen. Er hörte nicht auf zu fragen, bis die Mädchen alles erzählten. Da nahm der Bauer ihnen die Dukaten ab und zerbrach das grüne Zweiglein. Auch drohte er sie totzuschlagen, wenn sie keine weiteren Dukaten bei der Nixe holen würden.

Nun mussten die Mädchen Tag für Tag zur Nixe gehen, und jede Rückkehr mit einem Stückchen Finger bezahlen. Am Ende hatten sie nur noch den Daumen und den Zeigefinger an ihrer rechten Hand. Das reichte gerade noch, um einen Löffel mit Suppe zu halten. Der Bauer aber hatte einen ganzen Kasten voller Golddukaten, doch seine Habgier war immer noch nicht gestillt. Wieder prügelte er die Mädchen durch und begleitete sie jetzt misstrauisch zum Teich der Nixe.

Die Mädchen riefen: "Wassernixe, Wassernixe, zieh uns rein!" Die Nixe erschien und teilte mit ihrem Zweiglein das Wasser. Da liefen die hungrigen Kühe eilig los und drängten den Bauern mit auf den Viehweg. Jetzt musste auch der Bauer mit einem Fingerglied für seine Rückkehr bezahlen. "Ha", dachte er, "ein Stückchen Finger kann ich schon verschmerzen. Das lasse ich mir teuer bezahlen." Die Nixe aber rief: "Du elender Geizhals, der Teufel soll dich holen! Ich werde dir sechs Finger nehmen und daraus neue für die Mädchen machen."

Sie schleifte den Bauern zu ihrem Haus und schnitt ihm mit der Schere drei Finger an jeder Hand ab. Das Blut tropfte auf die Erde, doch es vertrocknete nur zu kleinen schwarzen Klümpchen. "So, du Kinderschänder", sprach die Nixe, "jetzt geh zurück zu deinem Hof. Dort hast du ja viele Golddukaten. Wenn du diese richtig zusammenbringst, dann kannst du deine Fingerglieder zurückerhalten. Für jedes Fingerglied musst du die richtigen Dukaten in meinen Teich werfen, aber immer schön der Reihe nach. Ihr Kinder aber sollt noch etwas bei mir bleiben, bis ich euch zur Mutter schicke." Die Nixe machte nun aus jedem Finger des Bauern einen neuen für die Mädchen. Sie schnitt die Finger entzwei, hämmerte sie zurecht und fügte sie wieder zusammen. Dann steckte sie den Mädchen die Finger auf die Hände, und es passte wie angegossen.

Der Bauer aber war schon davongeeilt. Wie die Mädchen hatte er von der Nixe noch ein grünes Zweiglein erhalten, um damit auf den Viehweg zu schlagen. Das tat er und fand sich gleich am Ufer des Teiches wieder. Geschwind eilte er zu seinen großen Kasten mit den Golddukaten und lief damit zum Teich zurück. Nur konnte er nicht erkennen, aus welchen Fingergliedern die Dukaten hervorgegangen waren, denn sie waren alle gleich. Da beschloss der Bauer kurzerhand, die ganze Kiste ins Wasser zu werfen. Er machte es, und schon sah er an seinen Händen neue Finger wachsen. Fröhlich ging er nach Hause. Dort merkte er plötzlich, dass seine Finger immer mehr bluteten. Die Blutstropfen verwandelten sich eimerweise in Wasser, das sich zu einem wilden Strudel vereinte. Bald stand das ganze Haus unter Wasser, und der Strudel riss den Bauern für immer fort.

Die Dukaten aber, die der Bauer in den Teich geworfen hatte, bekamen die beiden Mädchen. Glücklich und voller Freude brachten sie diese zu ihrer armen Mutter und lebten jetzt sorgenlos mit ihr zusammen.