Ich gehe mit zur Fähre

  • Autor: Stevenson, Robert Louis

Starker Regen fiel während der Nacht. Am nächsten Morgen blies ein schneidender Wind aus Nordwesten und trieb zerrissene Wolken vor sich her. Trotzdem lief ich, noch ehe die Sonne aufging, hinab zum Bach und tauchte an einer tiefen Stelle in das Wasser. Dann setzte ich mich an das Feuer in der Küche und dachte über meine Lage nach.

Ich hatte keinen Zweifel, dass mein Oheim mein Feind war und dass ich selbst auf mich aufpassen musste. Aber ich war mir sicher, dass alles ein gutes Ende nehmen würde, wenn ich die Oberhand bekäme. Ich malte mir aus, wie ich einem Geheimnis nach dem anderen auf die Spur kommen würde.

So voller Mut ging ich die Treppe hinauf und gab meinem Gefangenen die Freiheit. Bald darauf saßen wir beim Frühstück. "Nun, Sir", sagte ich, nicht ohne Hohn und Spott in der Stimme, "habt Ihr mir nicht etwas zu sagen? Es ist wohl an der Zeit, dass wir einander besser verstehen lernen. Ihr haltet mich für einen Tölpel vom Lande, und ich habe Euch für einen guten Menschen gehalten. Wie es scheint, waren wir beide im Irrtum."

Er murmelte etwas von einem Scherz und versicherte, dass er mir alles nach dem Frühstück erklären wolle. Ich sah seinem Gesicht an, dass ihm noch keine Lüge eingefallen war. Gerade, als ich ihm das sagen wollte, klopfte es an der Tür. Ich öffnete und fand einen halbwüchsigen Jungen in Seemannstracht vor. Er sagte, dass er einen Brief vom alten Hossy an Herrn Balfour habe. Dann fügte er hinzu: "Hungrig bin ich auch, und das sehr, Kamerad!"

Ich ließ ihn ein und setzte ihn auf meinen eigenen Platz, wo er sich gierig über die Reste des Frühstücks hermachte. Indessen hatte mein Oheim den Brief gelesen und saß nun nachdenklich da. Dann stand er plötzlich auf und zog mich in den entferntesten Winkel des Raumes. "Lies das!", sagte er und gab mir den Brief in die Hand.

Wirtshaus Hawes, bei Queensferry
Sir, ich liege hier vor Anker und schicke meinen Schiffsjungen zu Eurer Information. Wenn Ihr irgendwelche weiteren Aufträge habt für Übersee, so wäre heute die letzte Gelegenheit, denn der Wind ist günstig zum Auslaufen. Ich will nicht leugnen, dass ich mit Eurem Vertreter, Mister Rankeillor, Unstimmigkeiten gehabt habe. Aus diesen werden sich, wenn die Sache nicht rasch in Ordnung kommt, für Euch vielleicht einige Verluste ergeben. Ich habe eine Rechnung für Euch aufgesetzt und bin Euer gehorsamer, ergebener Diener
Elias Hoseason.'

Als mein Oheim merkte, dass ich mit dem Lesen fertig war, meinte er: "Davie, ich habe Geschäfte mit diesem Hoseason. Er ist Kapitän einer Handelsbrigg, der ‚Covenant'. Wenn du und ich mit dem Jungen da hinüber gingen, könnte ich den Mann im Wirtshaus ‚Hawes' treffen, vielleicht auch an Bord der ‚Covenant', wenn Papiere zu unterzeichnen wären. Und um nicht Zeit zu verlieren, könnten wir gleich einmal zu Mister Rankeillor gehen, meinem Anwalt. Nach allem, was geschehen ist, glaubst du mir ja nicht mehr, aber dem Anwalt wirst du glauben. Er besorgt die Geschäfte für die Hälfte des Adels hier in der Gegend. Ein alter Mann, hoch angesehen, und er hat deinen Vater gekannt."

Ich dachte über den Vorschlag nach und kam zu dem Schluss, dass mir auf dem Weg zum Hafen und zum Anwalt kein Anschlag meines Onkels drohte, denn überall waren da zu viele Menschen. Dazu kam, dass ich endlich einmal das Meer und die Schiffe sehen wollte, denn mein bisheriges Leben hatte ich ja in den Bergen im Inland verbracht.

"Gut", sagte ich, "gehen wir nach Queensferry."

Mein Oheim nahm Hut und Rock und schnallte einen alten, rostigen Hirschfänger um. Dann traten wir das Feuer aus, verschlossen die Tür und machten uns auf den Weg.

Es war Juni. Auf den Wiesen leuchteten die Gänseblümchen, die Bäume blühten weiß, aber der Wind blies sehr kalt.

Ohm Ebenezer sagte den ganzen Weg über kein Wort. Der Schiffsjunge erzählte mir, er heiße Ransome und fahre seit seinem neunten Jahr zur See. Wie alt er jetzt war, wusste er nicht. Er zeigte mir tätowierte Zeichen auf seiner Brust und fluchte fürchterlich, wenn ihm der Sinn danach stand. Er brüstete sich mit vielen wilden, scheußlichen Dingen, die er getan haben wollte: mit Diebstählen, falschen Anklagen, ja sogar mit Mord, aber ich glaubte ihm das alles nicht so recht.

Ich fragte ihn nach der Brigg. Er hielt sie für das beste Schiff, das auf See fährt. Von Kapitän Hoseason meinte er, dass er rau, ungestüm und steinhart sei. Das alles bewunderte der arme, kleine Schiffsjunge als seemännisch und mannhaft. Eines aber musste er bei aller Bewunderung für den Kapitän zugeben. "Hossy", so nannte er ihn, "ist kein richtiger Seemann. Nicht er, sondern Mister Shuan steuert die Brigg. Der ist der großartigste Seemann, den es gibt, bis auf's Saufen." Dann zeigte er mir eine große, offene Wunde am Bein, die ihm Mister Shuan zugefügt hatte.

Dann änderte sich plötzlich sein Ton, und er zeigte mir einen großen Dolch, den er, wie er sagte, gestohlen hatte. "Oha, Mister Shuan soll das nicht noch einmal versuchen! Dann mache ich ihn kalt! Er wäre nicht der Erste!"

Ich begann zu begreifen, dass die Brigg ‚Covenant' nichts viel Besseres war als eine schwimmende Hölle auf dem Meer. Ich fragte den Schiffsjungen, ob er nicht lieber an Land leben wolle, wo es weit weniger gefährlich zugehe als auf dem Schiff, ohne die Gefahren von Wind und See und ohne die grässlichen Grausamkeiten der Leute.

Da begann er seine Lebensart zu rühmen und erzählte mir, wie lustig es sei, an Land zu gehen mit Geld in der Tasche, es auszugeben wie ein erwachsener Mann, zu prahlen und anderen Jungen, solchen jämmerlichen Landratten, wie er sie nannte, einen Streich zu spielen. Schließlich sagte er: "Es ist nicht immer so übel. Da gibt's welche, die sind schlimmer dran als ich, zum Beispiel die Zwanzigpfünder. Da war einer, etwa so alt wie Ihr. Sobald wir auf offener See waren, und er nicht mehr benebelt war von dem Zeug, das sie ihm eingegeben hatten, hat er geschrien und getobt. Und erst die Kleinen. Die verprügle ich immer tüchtig mit einem Tauende."

Mit der Zeit bekam ich mit, dass mit ‚Zwanzigpfündern' jene unseligen Verbrecher gemeint waren, die man als Sklaven nach Nordamerika verschickte und mit ‚Kleinen' jene noch viel unseligeren Kinder, die aus Rache oder zum eigenen Vorteil der Entführer angelockt und entführt wurden.

Als wir auf eine Berghöhe kamen, sah ich die Mündung des Flusses, in deren Mitte eine kleine Insel mit Ruinen lag. Am Südufer war ein Landungssteg für die Fähre eingerichtet, an dessen Ende ein hübscher Garten mit Stechpalmenbüschen und Weißdorn sowie das Gebäude des Wirtshauses ‚Hawes' sichtbar wurden. Das Fährboot hatte gerade in Richtung Norden abgelegt, und ein Ruderboot schwamm am Rand mit ein paar Matrosen, die schliefen. Ransome sagte mir, dass sei das Boot der Brigg, welches auf den Kapitän warte.

Etwa eine halbe Meile entfernt entdeckte ich mit seiner Hilfe die ‚Covenant' selbst. An Bord herrschte die Geschäftigkeit der Abfahrtsstunde. Nach allem, was ich auf dem Weg erfahren hatte, blickte ich nach dem Schiff mit größter Abscheu, und aus tiefstem Herzensgrund bemitleidete ich alle armen Seelen, die verurteilt waren, mit ihm zu fahren.

Zu meinem Oheim sprach ich: "Ich möchte Euch mitteilen, dass nichts auf der Welt mich dazu bringen wird, an Bord dieser ‚Covenant' zu gehen."

"Schön, schön", erwiderte er, "aber wozu stehen wir denn hier herum? Es ist schauderhaft kalt, und wenn ich mich nicht irre, machen die Leute die ‚Covenant' schon zur Ausfahrt fertig."